Eine Frage des Tons DIE WELT 14.2. 06

Essay: Eine Frage des Tons

In Deutschland gehen Schüler in die Schule als müßten sie zum Zahnarzt, hier sind Lehrer die Feinde und Lernbegierige gelten als „Streber“

von Reinhard Kahl

Auf euch haben wir gewartet.“ Klingen diese 23 Buchstaben nach einer Einladung? Etwa so: „Ihr seid schon ganz gut, vielleicht steckt aber noch viel mehr in euch. Laßt uns etwas daraus machen.“ Oder senden die gleichen Buchstaben, nur anders betont, eine ganz andere Botschaft: „Auf euch haben wir gerade noch gewartet … Ihr fehlt mir noch … Ich wundere mich schon gar nicht mehr … Ihr werdet noch euer blaues Wunder erleben …“ Man kennt diesen misanthropischen Ton.

Natürlich ist diese Gegenüberstellung allzu schwarz-weiß gezeichnet. Aber die Grundfrage ist doch, ob Kinder freudig begrüßt oder mißbilligend gemustert werden. Ist Erziehung eine Einladung an die nächste Generation, oder wird mit dem sogenannten späteren Leben gedroht und zudem noch behauptet, die Gegenwart sei erst ein Vorspiel?

In der Bildung und der Erziehung geht es immer auch um das Verhältnis, das die Erwachsenen zu sich selbst und zu ihrer Welt haben. Die Diskurse über Bildung und Erziehung sind zugleich Selbstgespräche der Gesellschaft. Wo kommen wir her? Wo wollen wir hin? Sucht man nach den Talenten der Schüler, glaubt man daran, wie Georg Christoph Lichtenberg sprach, daß „jeder des Jahres wenigstens einmal ein Genie ist“, oder sucht man in den Schulen nach den blinden Passagieren, die dort nicht hingehören? Werden Lehrer von ihren Schülern geachtet oder bekriegt? Wie kommt es, daß es in Deutschland immer noch selbstverständlich ist, wenn Schüler die Lehrer als ihre Feinde ansehen? Und warum ist hierzulande eine Figur allzu vertraut, der „Streber“? So als stünden Schülerinnen und Schüler, die ganz einfach nur gut sein wollen, im Verdacht der Kollaboration mit dem Feind.

Warum gehen in Deutschland viele Kinder zur Schule wie zum Zahnarzt? Andererseits: Warum unterrichten viele Lehrer lieber Fächer statt Kinder, und warum frönen sie immer noch der sogenannten „Osterhasenpädagogik“, bei der sie das Wissen verstecken? Warum nur interessieren sich Lehrer häufig so sehr für die Fehler der Schüler und nicht, damit diese daraus lernen, sondern um sie ihnen anzukreiden?

Apropos Fehler. Auch hier hängt wieder alles von einem scheinbar kleinen Betonungsunterschied ab. „Hast du heute schon wieder Fehler gemacht?“ Gereizte Fragen der Eltern. Den Vormittag schon hatte sich die pädagogische Inquisition an Mathe, Latein und Erdkunde erprobt. Nur nichts falsch machen. Das war hinter all dem Stoff die Botschaft der roten Tinte. Die Gegenreaktion der Schüler: Perfektion vortäuschen. Intelligent gucken, statt angeblich dumme Fragen zu stellen. Aber was sind eigentlich dumme Fragen, wenn man lernen will? „Hast du heute schon wieder einen Fehler gemacht?“ Die gleiche Frage, nur ganz anders betont, empfehlen Unternehmensberater neuerdings als eine Art Mittagsmeditation. Der Fehler gilt nicht mehr als Sünde, sondern als Auszeichnung, denn am Fehlversuch geben sich Grenzgänger zu erkennen. Wer Neuland betritt, macht Fehler, unweigerlich. Wer keine gemacht hat, der hat sich nicht bewegt. Das ist gewissermaßen ein neues pädagogisches Testament: Der Fehler ist das Salz des Lernens, ja, des Lebens. Man stelle sich vor, die Einzeller hätten einen perfekten Schutz gegen Kopierfehler bei ihrer Vermehrung entwickeln können? Es würde uns nicht geben. Nur die Mutation ermöglicht die Evolution, und nur Fehler ermöglichen das Lernen. Beim Laufenlernen der Kinder kann man es am besten beobachten: Laufen ist aufgefangenes Fallen. Schritt für Schritt. Das bleibt ein Leben lang so. Ein Wechsel von Stabilität und Instabilität. Dem verdanken wir sogar den aufrechten Gang.

Das Verhältnis zum Fehler läßt heute ablesen, wo wir im Übergang von der Industriegesellschaft zu einer Wissensgesellschaft, oder wie Bundespräsident Horst Köhler sagt, zu einer Ideengesellschaft, stehen. „Macht mehr Fehler und macht sie früher!“ Parolen wie diese füllen dem Management-Guru Tom Peters in den USA die allergrößten Hallen. Vorstände der mächtigsten Konzerne zahlen Riesensummen, um sich privatissime von ihm irritieren zu lassen. Irritation ist kostbar. Der verstorbene Meister der Paradoxien und der Systemtheorie, Niklas Luhmann, meinte sogar, Irritationsfähigkeit sei die wesentliche Voraussetzung dafür, Neues lernen zu können. „Ich ernähre mich von meinen Fehlern“, meinte Joseph Beuys.

Noch ein dritter Satz, dessen Sinn sich mit einer anderen Betonung in sein Gegenteil verkehrt. Ein Lehrer sagt über seine Schüler: „Die machen, was sie wollen.“ Spricht er herablassend oder voller Achtung? Liegt Wollen auf seiner semantischen Karte in der Nähe von Beliebigkeit, Anarchie und Chaos oder in der Nachbarschaft von Staunen, Wünschen und Denken?

Diese drei großen Unterschiede, die sich aus kleinen Unterschieden – Unterschieden nicht einmal des Wortlauts, sondern nur der Betonung – ergeben, sollen darauf hinweisen, wie sehr es auf Atmosphäre ankommt. Wie wird etwas gesagt oder gemacht? Nicht nur, was wird gesagt oder getan. „Die Welt liegt zwischen den Menschen, und dies Zwischen ist heute Gegenstand der größten Sorge und der offenbarsten Erschütterungen in nahezu allen Ländern der Erde.“ Das sagte Hannah Arendt, als sie sich am 28. September 1959 in Hamburg für den Lessing-Preis bedankte. Das Wie, das Zwischen, die Atmosphäre, das Vertrauen und das Selbstvertrauen, all das sind Wörter, die für die weichen Faktoren stehen, Wörter, die man in den Präambelsätzen und Leitbildern gern beschwört, denen man aber im Zweifelsfall doch nicht so ganz traut. Immer noch nicht.

Der Journalist, Autor und Filmemacher („Wie Schule gelingen kann“) lebt in Hamburg

Artikel erschienen am Di, 14. Februar 2006