Joseph Beuys erfand die „soziale Plastik“,
um mit seiner Kunst die Mythen
des Alltags erkennbar zu machen. Eine
hervorragende soziale Plastik ist
mit dem deutschen Rechtschreibkrieg
gelungen, wenn auch ganz unfreiwillig.
Natürlich, man könnte sagen, alles
nur Sommertheater. Aber in diesem
Stück geht es so bitter ernst und
humorlos zu, wie das wohl nur teutonische
Stämme fertig bringen. Es droht
wieder mal Chaos. Darin sind sich
zwar nicht alle, aber doch ganz viele
einig. Selbst die Fraktionsvorsitzende
der Grünen im Bundestag, Karin
Göring-Eckardt, sieht die ganze Sache
„zur Anarchie führen“. Wer Deutschland
in diesen Tagen nur aus dem
Feuilleton kennt, der müsste tatsächlich
glauben, die Basis der Kultur
würde weggeätzt, das Schlimmste
droht: Beliebigkeit. Am Ende weiß
niemand mehr, woran er sich halten
soll. Und, das scheint dort nun wirklich
das Allerschlimmste, jeder macht,
was er will.
Den Vogel schießt Reiner
Kunze ab, der als Schriftsteller
länger nicht mehr
hervorgetreten ist: „Ich habe
schon mal gegen eine
Mauer gekämpft . . . seit
acht Jahren kämpfe ich wieder gegen eine
Mauer, die diesmal durch meine
Sprache verläuft . . .“ Wer bietet mehr?
Westerwelle. Für ihn ist die Gelegenheit
günstig, die Abschaffung der Kultusministerkonferenz
zu fordern. Darüber
könnte man streiten, sogar mit guten
Argumenten, aber selten war eine Debatte
so wenig komplex wie diese und
selten war ein Sommertheater zugleich
so aufschlussreich.
Es ist Zeit, von der Bühne ins Parkett zu
wechseln. Wer mehrere Zeitungen liest,
die Süddeutsche in einer leicht überarbeiteten
neuen Rechtschreibung, die
Welt in einer etwas anders definierten
Hausschreibe, die sich noch an der Reform
orientiert, schließlich die Neue
Züricher, die wie der Rest der Schweiz
schon lange „dass“ statt „daß“ schreibt
und schließlich die FAZ nach ihrem
Wortregister, das sie die „bewährte“
Rechtschreibung nennt, und wer ohnehin
alte und neue Bücher hat, fällt
dem der Unterschied überhaupt auf?
Und was ist daran so skandalös, mal
Schifffahrt und mal Schiffahrt zu lesen?
Also, worum geht es, wenn man die Eitelkeiten
der Westerwelles abzieht? Im
Rechtschreibkrieg blühen noch mal
deutsche Neurosen auf. Der alte Hang
zu Religionskriegen und Kulturkämpfen.
Dieses ganz rigorose Entwederoder-
Denken, dessen erstes Gebot
heißt: Habe keine andere Wahrheit neben
mir, selbst wenn es nur um Kommaregeln
geht. Die gute Nachricht allerdings
ist, dass diese üppige Scheinblüte
den Auflösungsprozess des Neurotizismus
selbst beschleunigt. Die
Doppelherrschaft von alter und neuer
Rechtschreibung hat unbeabsichtigt einen
enormen Zivilisationsgewinn gebracht.
Die alte Leitdifferenz von
„richtig – falsch“, die immer nur eine
Lösung durchgehen lässt, wird nun im
Alltag von der überlegenen Unterscheidung
„möglich – nicht möglich“
durchsetzt und langsam abgelöst.
„Möglich – nicht möglich“, das ist etwas
ganz anderes als die befürchtete
Beliebigkeit, gar Anarchie im Schreiben!
Dass Regeln, sobald es mehr als eine
gibt, sich aneinander stoßen und nie
wirklich aufgehen, das ist nur für Pedanten
eine Not. Es ist tatsächlich ein
Glück. Wenn die Dinge nicht ganz aufgehen,
dann gehen sie weiter. Die meisten
Menschen schreiben so wie wie sie
wollen.
Wie sie wollen? Von der Betonung dieses
Satzes hängt doch alles ab. Die Welt
empörte sich am 14. August: „Das Chaos
in Sachen Rechtschreibung ist perfekt.
Die Deutschen schreiben, wie sie wollen.
32 Prozent schreiben derzeit nach
Gefühl, mischen dabei noch die alten
und die neuen Regeln.“
Die behauptete Beliebigkeit, „die schreiben
nur noch, wie sie wollen“ ist nicht
von großem Vertrauen geprägt. In diesem
Fall braucht man keine Regulative,
sondern harte Vorschriften. Wenn man
hingegen mit Achtung sagt, der schreibt
wie er will, dann könnte es doch sein, er
oder sie will etwas ausdrücken und das
ist alles andere als banal.
Man stelle sich vor, es gäbe eine Rechtsprechkommission?
Der erste Nebeneffekt
wäre, dass viele glaubten, ohne bei
ihr nachzufragen keine rechten Sätze
mehr bilden zu können. Tatsächlich ist
Einschüchterung ein Nebeneffekt unserer
strikten Rechtschreiborthopädie.
Die Zeit ist also günstig für eine intelligentere
Rechtschreibdebatte. Wie gelingt
es, zumal in den Schulen, den
Zwangscharakter der Orthografie zu
lockern und nicht in die Kehrseite des
Zwangs oder die Verwahrlosung zu verfallen?
Albert Einstein sagte: „Zwei Dinge
bedrohen ständig die Welt, Ordnung
und Unordnung.“ Rechtschreibung wäre
eine wunderbare Übung für eine Balance
jenseits der simplen Entweder-
Oder-Mechanik.
Der Regelperfektionismus, in dem sich
die Anhänger der einzig richtigen alten
und der allein richtigen neuen Schreibweise
nur so übertreffen, produziert jedenfalls
mehr Probleme als er löst und
genau darin liegt eine List des tumben
Krieges um die Rechtschreibreform, auf
die man setzen kann.
Man erinnere sich, dass es vor 1901 keine
staatlich erlassene Rechtschreibung
gab. Damals wucherten barocke Ungetüme,
zu denen auch noch unsere
Großschreibung von Substantiven gehört.
Jacob Grimm, der große Wörterund
Geschichtensammler, schrieb klein.
Ein Individuum konnte sich entscheiden.
Vielfalt war möglich. Tatsächlich
hatte bereits Duden, dessen Maxime ja
hieß, „schreib wie du sprichst“, etwas anderes
bewirkt als das, was er beabsichtigt
hatte. Der Vereinfachungsversuch öffnete
der großen Normierung der Schrift Tor
und Tür. Das passte hervorragend ins
DIN-Zeitalter der ersten industriellen
Moderne, in der die Deutschen Weltmeister
wurden. Die durchregulierte Rechtschreibung,
zumal in ihrer engen und
ängstlichen Auslegung, sozialisierte für
die Massenproduktion. Diese brauchte
strikte Normen. Kreativität und Ideen
hingegen brauchen Spielräume. Auch
die jüngste, eher zahme Rechtschreibreform
lebt noch von dem Traum einer
alle Zweifelsfälle berücksichtigenden und
ordnenden zentralistischen Regelungskraft.
Aber wissen diejenigen, die nun
nach der „bewährten“ oder „klassischen“
Rechtschreibung nostalgieren, wonach
sie sich sehnen?
Im Kampf der Rechtschreiber wird es einen
Kompromiss geben. Entweder-Oder
geht nicht mehr. Die Reform wird nicht
fallen. Viele alte Schreibweisen kehren
als Varianten zurück.
Eine große Chance und wirkliche Herausforderung
für die Schule wäre nun,
aus dem gewonnen Spielraum etwas zu
machen. Können wir uns vorstellen,
dass Lehrer begründen müssen, warum
sie die Schreibweise eines Wortes als
falsch anstreichen? Nicht mehr Regeln
exekutieren, sondern Antworten geben.