DIE ZEIT Finnland – Wenn die Schule lernt


Wenn die Schule lernt

Finnland ist bei Pisa wieder einmal Spitze. Warum das so ist, beschreibt Reinhard Kahl

 

Andreas Schleicher würde seine kleinen Kinder am liebsten in Helsinki einschulen. Der internationale Pisa-Koordinator ist nicht der einzige Finnland-Fan: Ob Bundesministerin Edelgard Bulmahn, SPD, oder Karin Wolff, CDU, die Rivalin im hessischen Kultusministerium – alle haben im Norden nur Vorbildliches gefunden. Finnland könnte also der gemeinsame Nenner der zerstrittenen deutschen Bildungspolitik sein. Das Land hat bei der jüngsten Pisa-Studie noch einmal zugelegt. Spitze sind die Finnen nun nicht nur in »Literacy«, also im Verstehen von Texten, wie bereits bei Pisa 2000, sondern auch in Mathematik. Der Grund für die Steigerung sei das »durch und durch lernfähige Schulsystem«, sagt Schleicher. Um von den Finnen zu lernen, pilgern Lehrer aus Deutschland nach Norden. Zum Beispiel an die Puistolan Peruskoulu in Vantaa, einem Vorort Helsinkis in Flughafennähe. Eine ganz gewöhnliche Schule, sagen ihre Lehrer.


Die Schule in Vantaa ist ein ideenreicher Neubau. Oberlicht gliedert den Raum. Pflanzen in Bibliothek, Computerlabor und Kantine. Also doch eine Vorzeigeschule? Nein, sagt die Lehrerin Eija Reinikainen und fragt, ob es denn in Deutschland nicht selbstverständlich sei, dass die besten Architekten Schulen bauen? Selbstverständlich ist den Finnen auch ihre Peruskoulu, die Gemeinschaftsschule, zu der in Finnland alle Kinder vom ersten bis zum neunten Schuljahr gehen. Deutsche Lehrer sind bei ihren Besuchen immer wieder verwundert, wie entspannt es da zugeht. »Wie können Schüler und Lehrer nur so freundlich miteinander umgehen?«

Eija Reinikainen führt in ihre »kleine Klasse«, ein drittes Schuljahr. Die »kleinen Klassen« sind für Schüler mit Lernschwierigkeiten. Bei Eija Reinikainen sitzen an diesem Morgen nur vier Kinder. In der nächsten Stunde kommt noch eine Schulassistentin dazu. Eija – die Finnen sprechen sich mit Vornamen an – berichtet voller Stolz, dass sie nun langsam überflüssig wird und sich neue Aufgaben für den Rest des gerade drei Monate alten Schuljahres sucht. Denn die meisten der Kinder »mit Diagnose«, die sie mit der Einschulung bekommen hat, besuchen die 3a, »die große Klasse«, der Begriff normale Klasse wird vermieden.

Zum Beispiel Christa und ihre Zwillingsschwester, Kinder einer depressiven Mutter. In der Vorschulklasse, die in Finnland fast alle Kinder besuchen, fielen die beiden auf. Psychologen untersuchten sie und diagnostizierten, dass sie beim Lernen wohl nie richtig mithalten werden. Christa ist zudem stark gehbehindert. »Hätte sie das Laufen so gelernt, wie Schüler in der alten Schule unterrichtet wurden, immer nur nach richtig oder falsch«, bemerkt Eija, »dann könnte sie bestimmt gar nicht laufen.« So, wie sie jetzt läuft, schwankend, aber doch sicher, hat sie ihre ganz eigene Weise gefunden. Nun kommt Christa nur noch montags zur ersten Stunde in die kleine Klasse, um aus ihrem Tagebuch vorzulesen. In der 3a liest sie inzwischen am besten. »Und Christa hatte so eine schlechte Prognose«, sagt Eija, »sie muss unbedingt Schauspielerin werden.« Selten sah man eine Lehrerin so begeistert.

Viele Schüler bekommen einen individuellen Lehrplan

In Finnland machen die meisten Kinder »mit Diagnose« in der dritten Klasse im Regelunterricht mit, während der Anteil deutscher Sonderschulen auf die Fünfprozentmarke zuläuft, eine in der Welt einmalige Quote. Viele finnische Kommunen haben ihre Sonderschulen aufgelöst. Aber es gibt in jeder Schule Sonderpädagogen, einen Schulkurator, eine Art Sozialarbeiter, der sich um Schüler mit Schwierigkeiten und ihre Familien kümmert, Schullaufbahnberater, Schulpsychologen und eine Schulkrankenschwester, die nicht nur Pflästerchen aufklebt, sondern auch für Kinder mit Liebeskummer da ist. Über Schüler, die Sorgen bereiten, wird bei einer wöchentlichen Konferenz mit dem jeweiligen Klassenlehrer gesprochen. Man fragt dabei nicht, wer Schuld hat, man überlegt: Was können wir tun?

Eigene Kuratoren und Psychologen haben nur große Schulen. In Helsinki arbeiten 44 Schulpsychologen und 47 Kuratoren. Zum Vergleich: Im Berliner Bezirk Tiergarten, der etwa so viele Einwohner wie Helsinki hat, gibt es drei Schulpsychologen, die in ihren Büros die Wartelisten abarbeiten.

Wenn Eijas Starterklasse aufgelöst ist, bekommen viele Schüler weiter Zusatzunterricht, einzeln oder in kleinen Gruppen. Insgesamt wird einem Viertel aller Schüler diese Unterstützung gegeben. Zusatzunterricht, erinnern sich ältere Lehrer, war früher ein Makel, heute ist er beliebt. Schwerbehinderten wird sogar ein »persönlicher Assistent« an die Seite gestellt.

Pädagogisches Schlaraffenland? Keineswegs, rechnen die Spezialisten im Opetusneuvos Opetushallitus, Zentralamt für das Unterrichtswesen, vor. Finnland kennt keine Sitzenbleiber mehr, außer wenn ein Kind lange krank war. In Deutschland weist Pisa bei 38 Prozent der Schüler verzögerte Schulkarrieren aus. Das kostet Milliarden. Im 5 Millionen Einwohner zählenden Finnland gab es in den vergangenen Jahren jeweils zwischen 150 und 200 Jugendliche, die nach der 9. Klasse keinen Abschluss bekommen haben. Im 80 Millionen zählenden Deutschland bleiben jährlich über 100000 Jugendliche, etwa 10 Prozent des Jahrgangs, ohne Hauptschulabschluss. Ein Schüler in der finnischen Primarstufe ist dem Staat rund 5000 Euro wert, in Deutschland sind es 1500 Euro weniger. Später in der Oberstufe werden die finnischen Schüler billiger als die deutschen. Sie arbeiten selbstständiger und brauchen weniger Lehrer.

Ein Geheimnis des finnischen Erfolges ist: Der Anfang ist das Entscheidende. Kinder mit Schwierigkeiten, und von denen gibt es auch beim Pisa-Sieger immer mehr, sollen früh Anschluss finden. Mit der großen Aufmerksamkeit für den Anfang hängt das zweite Erfolgsgeheimnis zusammen: die Individualisierung. Jedes Kind ist anders, lernt anders, hat andere Fehler. Je größer das Problem, umso individueller muss die Antwort der Schule sein. Viele Kinder bekommen ihren »individuellen Lehrplan«. Was als Umgang mit beeinträchtigten Kinder begann, wird langsam ein Prinzip des ganzen Systems.

Das dritte durchaus offene finnische Geheimnis ist: Mit der Individualisierung wird die Gemeinschaft wichtiger. Eija Reinikainen spricht auch von Liebe und immer wieder von hyvinvointi, was Geborgenheit, Zugehörigkeit und Wohlfühlen bedeutet.

Eija Reinikainen soll übrigens in zwei Jahren pensioniert werden. Sie hat bereits mit dem Schulleiter ausgemacht, als Honorarkraft weiterzumachen. Gewiss, Eija ist eine ganz besondere Lehrerin. Aber solche in ihre Schüler verliebten Lehrer finden sich in Finnland häufig. Die neuen finnischen Rahmenlehrpläne lassen ihnen Freiheit. Diese Standards setzen den Rahmen von der Vorschulklasse bis zum lukio, der Oberstufe, auf der Schüler in zwei oder auch in vier Jahren ihr Abitur machen können. Das schaffen mehr als 60 Prozent. Andere erwerben das Abitur an Berufsschulen. 72 Prozent eines Jahrgangs studieren.

Die Schulaufsicht wurde Mitte der neunziger Jahre abgeschafft. Das Gesetz verpflichtet die Kommunen, für guten Unterricht zu sorgen. Die Schulen sind den Gemeinden verantwortlich.

»Jeder Lehrer muss ein Forscher sein, der das Lernen der Kinder begreift«

»Die Kinder sind wie ein Spiegel«, sagt Jorma Ojala, Professor für Erziehungswissenschaft im 250 Kilometer weiter nördlichen Jyväskylä, dem Zentrum der finnischen Erziehungswissenschaft. »Wenn die Lehrer sie nicht achten, dann achten auch die Kinder nicht ihre Lehrer.« Und der Professor fügt hinzu: »Früher dachte man, dass die Kinder uns Lehrer zu verstehen haben. Es ist aber umgekehrt. Lehrer haben die Kinder zu verstehen.« Das sind Sätze, die man überall hört. Häufig sprechen Lehrer, aber auch Eltern und Wissenschaftler von der alten Schule, von der sich Finnland seit der 1962 geplanten und Mitte der siebziger Jahre im ganzen Land begonnenen Reform längst verabschiedet hat. Ojalas Kollegin Pirjo Linnakylä, die im Konsortium der finnischen Pisa-Wissenschaftler für die Lesestudie zuständig ist, hatte noch in der Schule vor der Reform unterrichtet. »Damals war es so ähnlich wie in Deutschland« erinnert sie sich. Schüler, die nicht gut mitkamen, blieben sitzen, bekamen schlechte Noten, wurden vom Gymnasium verwiesen oder schon aus der Grundschule in die Sonderschule geschickt. »Wir kannten es ja nicht anders.« Der wichtigste Effekt der finnischen Gesamtschule ist für Professorin Linnakylä, dass nun Lehrer ihren Unterricht ändern müssen, wenn sie Schüler nicht erreichen. »Die Lehrer sind verantwortlich«, und das sagt sie mit Hochachtung, ohne Vorwurf.

Die Universität wiederum ist für die Ausbildung der Lehrer verantwortlich. Die Hochschulen können auswählen. Sieben Bewerber kommen auf einen Studienplatz im Lehrerstudium. »Wir versuchen rauszubekommen, ob die Bewerber selbst denken«, sagt Matti Meri, Professor an der Universität Helsinki und Direktor der Abteilung für angewandte Erziehungswissenschaften. Bewerber müssen zum Beispiel einen pädagogischen Klassiker lesen und in einem ersten Essay zusammenfassen. Dann werden sie zum Interview eingeladen. »Jeder Lehrer muss ein Forscher sein«, meint Matti Meri, »der das Lernen der Kinder begreift und die Arbeit in der Schule analysiert.«

Deshalb bekommen alle Studierenden sofort eine Patenklasse in einer Schule. Dort müssen sie ihren Praxisteil von 15 Semesterwochen absolvieren. Das ist Matti Meri noch zu wenig. Er ermuntert seine Studenten, so häufig wie möglich in ihrer Klasse zu hospitieren, dort ihren Blick zu schulen und sich selbst schon mal als Lehrer kennen zu lernen.

Mit ihren Lehrern sind die Finnen rundum zufrieden. Ihr Beruf ist einer der meistgeachteten, wenn auch finnische Lehrer etwa ein Drittel weniger verdienen als ihre deutschen Kollegen. Ein aufregenderes Thema sind in Finnland derzeit die Schüler. Eine Umfrage ergab, dass sie mit der Schule keineswegs so zufrieden sind, wie man dachte. Das beunruhigt die Öffentlichkeit. Kirsi Lindroos, die neue Generaldirektorin des Zentralamtes für das Unterrichtswesen, hat nun das »Empowerment der Schüler« auf die Spitze ihrer Agenda gesetzt. »Dass die Schüler selbst die Schule mitentwickeln«, sagt sie, »ist jetzt unsere größte Herausforderung.« Sie lässt gute Ideen und Beispiele sammeln, aber im Alltag laufe das noch gar nicht gut«, fügt die Mutter von vier Kindern hinzu. Und worin sieht sie sonst ihre wichtigste Aufgabe? Sie zögert kurz und antwortet dann so bestimmt und unprätentiös, wie es nur Skandinavier können: »Im Wohlbefinden des ganzen Personals in den Schulen, damit es mit den Kindern immer besser und respektvoller umgeht.«

(c) DIE ZEIT 09.12.2004 Nr.51