Das Neue kommt als Fehler zur Welt

Feldenkrais 

Reinhard Kahl

Das Neue kommt als Fehler zur Welt

 

Am Anfang war das Wort?  Am Anfang war die Tat?

Am Anfang war der Fehler! Ja der Fehler! Man könnte auch sagen: Am Anfang war die Mutation. Eine nicht geplante, nicht vorhersehbare Operation. Und am Ende? Am Ende ist Erfüllung. Am Ende steht die Perfektion, wenn alles gemacht und nichts mehr zu tun ist.

Der Anfang ist eine Geburt, ist Geschrei, Qual und Bewegung.

Und am Ende ist Ruhe, vielleicht mit einem Lächeln, der Tod.

Am Anfang herrschen Mangel und Hunger. Am Ende ist Überdruss, wenn es ein schlechtes und Sattheit, wenn es ein gutes Ende ist.

Ohne Mangel jedenfalls gibt es keinen Anfang.

 

Der Ursprung alles Neuen ist ein Riss im Alten, eben der Ur-sprung. Natürlich gilt nicht die Umkehrung, dass aus jedem Riss etwas Überlegenes entspringt. Die meisten Mutationen sind nicht überlebensfähig, bleiben Rauschen in der großen Symphonie der Evolution. Fehlerverbote allerdings, wären sie erfolgreich, würden diese Symphonie zum Verstummen bringen.

 

Stille ist im Pavillon aus Jade  / Krähen fliegen stumm /
Zu beschneiten Kirschbäumen /  im Mondlicht. /

Ich sitze / Und weine.“

Dieses Gedicht kennt jeder und man kennt es auch nicht, es sei denn man hat schon von seiner poetischen Irrfahrt gehört. Es handelt sich um Goethes berühmtes „Wanderers Nachtlied“:  „Über allen Gipfel ist Ruh, in allen Wipfeln spürest Du…“ Die ins Japanische übersetzten Verse sind nach ihrer Rückkehr ins Deutsche nicht mehr wieder zu erkennen. Man kann dieses schöne deutschjapanische Pingpong als Folge von Fehlern beschreiben, oder als Entstehung von etwas Neuem. Über Abweichungen entsteht Neues. Wie auch sonst?

 

Langsam, langsam, wird man einwenden. Die Odyssee des Goethe Gedichts, eine das Original verwandelnde Nachdichtung, das ist doch wohl etwas anders als irgendein Schnitzer, wie Goethe mit „ö“ oder ihn ohne „h“ zu schreiben. Vielleicht! Vielleicht auch nicht. Etwas Geduld bitte.

 

Vorweg allerdings: wenn ich hier den Fehler loben will, ist damit keine Apologie des Falschmachens gemeint. Schon gar keine Plädoyer fürs Luschige, von der Art  „Ist ja eh alles egal“. Nein, nichts ist egal. Alles ist besonders. Jedes ist individuell. Und da sind wir wieder beim Fehler, denn, das ist die These, nichts Individuelles ist denkbar, ohne ihn. Er ist die so unvermeidliche wie faszinierende Spur des Lebendigen.

 

Beginnen wir beim alltäglichen Fehlermachen. Eine Erinnerung: „Was hast Du da nur wieder für Fehler gemacht?“ Gereizte Fragen der Eltern beim Mittagessen. Den Vormittag schon hatte sich die pädagogische Inquisition an Mathe, Latein und Erdkunde erprobt. Nichts falsch machen! Das war hinter all dem Stoff die Botschaft der roten Tinte. Im Zweifel so tun, als ob man schon angezogen auf die Welt gekommen ist. Fragen stellen, die der Lehrer beantworten möchte. Diese Lebensgrammatik durchdrang 13 Jahre den Schülerkörper und ging mächtig gegen den Strich. Das ist inzwischen ein paar Jahre her und immer noch folgen die Schulen diesem alten Testament. Sein erstes Gebot heißt Stunde für Stunde, habe keine andere Lösung neben mir. Das macht den Unterricht so lernbehindernd. Immerzu geht es um richtig oder falsch.

Um was denn sonst, fragen nun diejenigen zurück, die in diese Kosmologie so nachhaltig eingeführt worden sind, dass sie gar nicht anders denken und fühlen können.

 

„Macht mehr Fehler und macht sie früher!“ Solche Parolen füllen dem Management Guru Tom Peters in den USA die allergrößten Hallen. Vorstände der mächtigsten Konzerne zahlen Mordshonorare, um sich privatissime von ihm irritieren zu lassen. Irritation ist kostbar. Der verstorbene Meister der Paradoxien und der Systemtheorie, Niklas Luhmann, meinte sogar, Irritationsfähigkeit sei die wesentliche Voraussetzung dafür Neues lernen zu können.

„Macht mehr Fehler und macht sie früher!“ Dass dieser Ruf heute von den Feldherrenhügeln im Unternehmerlager, gewiss nicht aus jedem Betrieb, kommt, das hätten wir uns damals in der Schule nicht träumen lassen – und wir haben viel geträumt im Unterricht.

 

Das neue Testament der Fehlerfreunde heißt, ohne Fehler  gibt es keine Kreativität. Nur was schief gehen darf, kann gelingen. Natürlich geht es nicht darum, alte dumme Fehler zu wiederholen, sondern neue, intelligente Fehler zu wagen.

 

„Hast Du heute schon einen Fehler gemacht?“ Neuerdings empfehlen Unternehmensberater diese Mittagsmeditation. Die Frage wird aber ganz anders betont, als damals zu Hause beim Essen nach der Schule. „Hast du heute schon einen Fehler gemacht,“ dient nun der Selbsterforschung. Habe ich schon etwas gewagt? Der Fehler gilt als Eintragung im mentalen Pass für Scouts. Am Fehlversuch geben sich  Grenzgänger zu erkennen. Wer Neuland betritt, macht Fehler, unweigerlich. Wer keine gemacht hat, der hat sich nicht bewegt.

 

Wohin man sieht zerfällt heute das gnadenlose Misstrauen, das für die ganze Moderne maßgeblich war. Dazu gehörten die Alltagsreligionen der Perfektion, die Rhetorik der Belehrung und die unmenschliche Orthodoxie, dass es nur eine einzige Wahrheit gebe. Sie ermöglichte den Rest der Welt zu verachten – im Extremfall, ihn vernichten zu wollen. Eine Zweite Moderne hingegen, deren Geburt wir miterleben, versteht sich nicht mehr als Ausführung eines Masterplans, sondern als „Folge von Nebenfolgen“, wie es der Soziologe Ulrich Beck  ausdrückt. Keine Absicht wird mehr rein ausgeführt. Es ist wie beim Fußballspiel. Der Ball kommt selten so an, wie es sich der abgebende Spieler vorgestellt hat. Durch diese Fehler werden fortwährend Optionen geschaffen unfreiwillig. Die Unschärfe gehört ebenso zum Spiel, wie die Absicht zu treffen, ohne die es natürlich nicht geht. Das Spiel läuft nicht wie ein Computerprogramm. Immer kommt etwas dazwischen. Das sorgt für Spannung und dafür, dass es weiter geht.

 

Heute, im Übergang von der Industriegesellschaft zu einer Gesellschaft, die auf die Produktion von Wissen und von sozialen Netzen umstellt, verblasst das Leitbild vom Menschen, der wie ein Automat ausführen sollte, was ihm vorgeschrieben wurde.  Dennoch ist die Gesellschaft noch weit davon entfernt, ihre großen Institutionen zu Kreißsälen der Zukunft umzubauen. Das erfolgreiche Sterben vor dem Tod ist süßer, scheint zumindest risikoloser. Der Wunsch früh Rentner zu werden, löst Aussteiger Sehnsüchte vergangener Jahrzehnte ab. Schulen und mehr noch Hochschulen dümpeln wie Geisterschiffe in seichtem Gewässer. Lähmend wirkt in Deutschland die Vorliebe Opfer sein zu wollen, aus lauter Angst davor, Täter werden zu können. Kein Wunder im Auschwitz- und Mauerland. Wer handelt ist fehlbar. Nur als Opfer kann man sich einbilden rein und unschuldig zu sein.

 

Ein so aufschlussreiches wie amüsantes Beispiel für das deutsche Ringen und Würgen mit dem Fehler ist die immer noch nicht ausgestandene Rechtschreibdebatte. Die neueste  Sorge heißt, „es gibt keine einheitliche deutsche Orthographie mehr.“ „Wonach soll man sich noch richten?“  Es ist gerade mal 100 Jahre her, da verlangten Lehrer und Drucker nach eindeutiger Schreibweise und bekamen sie. Vor dem Zeitalter der deutschen Industrienorm war vieles möglich. Goethe zum Beispiel schrieb sich auch mal Göthe und sogar ohne das vornehme „h“.  Er hat mit der Schreibweise seines Namens  gespielt. Auch andere Wörter schrieb der Meister aus Weimar mal so und mal anders. Dieser Goethe! Was für ein Vorbild für unsere Schüler! Entmilitarisierung! Keine ABC Schützen mehr! Stellen wir uns also Schulen vor, in denen Lehrer begründen müssen, wenn sie die Schreibweise eines Wortes als falsch anstreichen!

 

Wir erleben die Abkehr vom simplen Richtig-falsch- und vom einfältigen Entweder-Oder-Denken.  An dessen Stelle tritt die elastischere Ordnung von  möglich/unmöglich. Dass die Schrift schnell erkennbar und kein Rätselraten sein soll, versteht sich. Also: nicht „alles wird möglich“, aber doch manches. Das Jahrhundert der Disziplin, der Stechuhr und des Rotstifts ist vorbei.

 

Natürlich, es gibt Fehler, die nicht passieren dürfen. Das gilt für den Lufthansa Piloten, für den Chirurgen im OP und für jeden, sobald er sich ans Steuer seines Autos setzt. Um aber in diesen Routinesituationen fehlerfrei zu reagieren und zu operieren müssen Lufthansa Piloten und Chirurgen in ihrer Ausbildung möglichst viele Fehler simuliert haben. Und wenn sie etwas Neues herausfinden wollen, brauchen sie Übungen, in denen sie Fehler machen dürfen, ja Fehler machen müssen, denn so tasten sie das unbekannte Feld ab und entdecken neue Möglichkeiten.

 

Solche Einsichten wären banal, wenn sie nicht in unserer Tradition so gründlich und erfolgreich bekämpft worden wären. So gilt es das Selbstverständliche, das nicht mehr und noch nicht wieder selbstverständlich ist, wieder zu entdecken. Dabei kann man von Kindern, bei genialen Wissenschaftler und Künstlern lernen. Zum Beispiel davon, wie Kinder laufen lernen. Ihr Laufen ist zunächst immer wieder aufgefangenes Fallen. Erst das Spiel von Sicherheit und Unsicherheit,  ermöglicht den aufrechten Gang. Jeder Schritt schafft erneut Unsicherheit – ein Leben lang. Was wäre, wollte man das Fallen, diesen Fehler, verbieten? Niemand könnte Laufen. Untersuchungen haben im Auftrage von Unfallversicherern nachgewiesen, dass in Kindergärten, in denen riskante Spiele verboten sind,  schwere Unfälle zunehmen, weil Kinder nicht zu fallen gelernt haben.

Auch das Erlernen der Sprache ist wie ein Expedition durch einen Dschungel voller Fehler. Man stelle sich vor, Kinder sollten die Muttersprache so lernen, wie man in der Schule lernt? Und das alles im Sitzen? Keiner könnte sprechen.

Dass die meisten Schulabsolventen mit der Mathematik auf Kriegsfuss stehen, liegt zu einem guten Teil an einem Unterricht, der wie ein Initiationsritual in eine fertige, keimfreie Ordnung aus richtig oder falsch betrieben wird. Mathematiker wie Heinz Otto Peitgen, der an der Universität Bremen und an amerikanischen Universitäten lehrt, behaupten, was an den Schulen getrieben wird, habe mit Mathematik wenig zu tun. Peitgen bekennt, „meine Arbeit besteht erst mal aus Fehlern und im zweiten Schnitt aus der Diagnose der Fehler.“ Das sei seine überaus fröhliche Wissenschaft. Das Mathe Genie Gert Faltings, er war mit 28 Jahren jüngster deutscher Mathematik  Professor,  sagt:  „90% meiner Einfälle funktionieren nicht.“ Und er fährt fort: „Aber nur so lernt man die Probleme besser kennen und findet neue Techniken“. Über Fehler wird die Welt erkundet. So werden auch eigene Fähigkeiten herausgefunden und weiter entwickelt. Fehlerverbote sind Entwicklungsverbote.

 

Was wäre, wenn tatsächlich alle Fehler überwunden werden könnten, wie es doch das Leitbild unser abendländischen Kultur seit mehr als 2000 Jahren verlangt? Was, wenn die menschliche Fehlerhaftigkeit oder Fehlerfähigkeit besiegbar wäre? Endgültig!  Für die Zukunft würde kein Platz mehr sein. Fertige Welt! Sollte es möglich sein, den Mangel abzuschaffen, dann wäre das zugleich die große, finale Implosion. Fehler zu machen, ist menschliches Schicksal. Fehler sind aber auch die Voraussetzung der Evolution. Der Preis der Radikallösung, alle Fehler zu überwinden, wäre der Verzicht aufs Leben selbst.

Ein Endsieg über Fehler würde sich als der ganz große, der totale, der nicht mehr rückgängig zu machende Fehler erweisen. Fehler sind das Signum der Sterblichkeit und es gibt kein anderes Leben als sterbliches. Sterblichkeit und damit auch die „Gebürtlichkeit“ von der Hannah Arend sprach sind zu rehabilitieren, denn beide sind die Voraussetzung von Lebendigkeit.

 

Man stelle sich vor, die Sicherheitsingenieure der Einzeller hätten sich vor Milliarden von Jahren  mit dem doch ganz plausiblen Vorhaben durchsetzen können, in der Evolution dürfe es fortan keine Fehler, also kein Kopierfehler, eben keine Mutationen geben?

 

„Perfektion,“ schrieb T. S. Elliot „bekommt keine Kinder.“ Sie ist steril. „Irren ist die Bedingung des Lebens.“ Das war für Friedrich Nietzsche eine schwer errungene Erkenntnis, denn er war zunächst über sein Leiden an der Unvollkommenheit der Welt so verzweifelt, dass er die Geburt als den größten Fehler ansehen wollte.

 

Dennoch: Fehler bleiben Fehler und Mangel bleibt Mangel, auch wenn sie lebensfördernd sind und Entwicklungen überhaupt erst ermöglichen. Es kommt also darauf an, diese Ambivalenz zu erkennen und mit ihr zu leben.

 

Franz Kafka sprach von „meiner wunderschönen Wunde, mit der ich auf die Welt gekommen bin. Das einzige was ich habe.“ Die Wunde ist eine Quelle und sie bleibt doch eine Wunde. Vielleicht kann man das Bild noch weiter treiben: Der Mensch ist die offene Wunde der Evolution. Er ist das unvollkommenste und das am wenigsten festgelegte Tier. Er ist phantasiebegabt und bleibt sein Leben lang entwicklungsbedürftig und entwicklungsfähig.  Er ist allerdings auch das zu Illusionen, zu Allmacht und zum Hass auf seine Unvollkommenheit neigende Tier. Und weil jeder anders verwundet ist, weil jeder anders unvollkommen ist, nur deshalb sind wir Individuen. Wir steigern unsere Individuation, wenn wir unsere Wunde nicht über die Maßen vor uns selbst und anderen verbergen und wenn wir die gefühllosen Narben nicht der Wunde vorziehen. Der Vorteil, wenig verwundet, ohne viele Probleme und Falten zu sein, wird mit Einfalt erkauft. Das ist der Nachteil allzu mühelos geglückter Biographien. Worin sonst sollte denn die Vielfalt der Welt bei uns Resonanz finden, wenn nicht in den Falten? Die Gehirnoberfläche ist unser am stärksten gefaltetes System, mehrere Quadratmeter, wollte man es ausbreiten.

Es gilt also die Falte zu entfalten und sie nicht gemäß den Programmen der Richtigkeit glatt zu bügeln.

„Wir verdanken doch nahezu alles, was wir können und was wir haben unseren Problemen,“ schreibt der Philosoph Volker Gerhard in seinem Buch „Selbstbestimmung – Das Prinzip Individualität.“

Die Hirnforschung macht auf ihre Weise plausibel, was Individualität heißt. Die Menge der möglichen Aktivitätsmuster unseres Gehirns beträgt 10 3000. Die Zahl der Protonen im gesamten Weltraum bringt es auf  10 80  und das muss schon sehr viel sein. Die Zahl der Aktivitätsmuster im Gehirn, das ist kein Druckfehler, zählt 10 3000.

Als der Soziologe Niklas Luhmann gefragt wurde, wie viele Wahrheiten es seiner Meinung nach gäbe, zögerte er einen Moment und antwortete, „na so fünfeinhalb Milliarden“. Das ist einige Jahre her. Der Dichter Durs Grünbein sagt: „Wenn ein Körper stirbt, geht ein Kosmos zu Grunde, jedes Hirn repräsentiert eine eigene Welt. Wir haben jetzt also etwa sechs Milliarden Welten.“ Das sind Gedanken, die zwar dem wachen Menschenverstand nicht fremd sind, die auch ihre philosophische Tradition haben, aber der Mainstream des Denkens, der alltäglichen Handlungsmuster und vor allem des Ressentiments floss in eine andere Richtung. Nur eine Wahrheit sollte es geben. Man stritt darum welche, führt in deren Namen Kriege, missionierte und vernichtete. Vielleicht räumte man ein, dass man die Wahrheit gar nicht so genau kennen kann, aber sechs Milliarden Wahrheiten, so viele Welten? Was steckt hinter dieser Anerkennung von Vielfalt? Es ist die Entdeckung des Individuums! Oder seine Wiederentdeckung, seine Renaissance!

Wenn ich den Fehler loben will, so deshalb weil er der Motor von Abweichung, Differenz und schließlich von Individualität ist. Und erst unsere Individualität, die Unterschiede erfordern und ermöglichen es eine gemeinsame Welt zu schaffen. Gesellschaft, Sprache, dies alles entspringt der Differenz. Auch Kreativität entspringt dem produktiven Mangel. 

Der Fehler ist das Salz des Lebens.

 

Die Welt liegt zwischen den Menschen, und dieses Zwischen ist heute Gegenstand der größten Sorge – viel mehr als, wie man häufig meint, die Menschen oder gar der Mensch.“ Das sagte die 1975 verstorbene Hannah Arendt, als sie in Hamburg 1959 den Lessing Preis erhielt. Denn weil es „den Menschen an sich“ nicht gibt, weil jeder Mensch ein Dissident ist, stellt sich die Frage nach dem Zwischen, nach der Gesellschaft, die etwas anderes ist, als nur die Summe oder der Zusammenschluss all der Einzelnen oder bloß ein Container für sie. Hannah Arendt fuhr fort: „Jede Wahrheit, ob sie nun den Menschen ein Heil oder ein Unheil bringen mag, ist unmenschlich im wörtlichsten Sinne, weil sie zur Folge haben könnte, dass alle Menschen sich plötzlich auf eine einzige Meinung einigten, so dass aus vielen einer würde, womit die Welt, die sich immer nur zwischen den Menschen in ihrer Vielfalt bilden kann, von der Erde verschwände.“

 

Das Zwischen als Gegenbegriff zur der einen Wahrheit ergibt sich für Hannah Arendt aus der „Pluralität“ also der Verschiedenheit der Menschen, weil eben jeder anders unvollkommen ist, weil jeder einen anderen Anfang hat. „Jeder Mensch steht in der Welt an einer Stelle, an der noch kein anderer je Stand“ schriebt sie in „Vita activa“. Und an anderer Stelle: „Es geschieht nichts Neues unter der Sonne, es sei denn, dass Menschen das Neue, das in die Welt kam, als sie geboren wurden, handelnd als neuen Anfang in das Spiel der Welt werfen.“

 

Deshalb setzte Hannah Arendt neben den klassischen Philosophensatz von der Sterblichkeit des Menschen seine „Gebürtlichkeit.“  Aus diesem je anderen Anfang ergibt überhaupt die Möglichkeit des Handels: „Handeln, im Unterschied zum Denken und Herstellen, kann man nur mit Hilfe der anderen. In dem Zusammenhandeln realisiert sich die Freiheit des Anfangenkönnens.

Ohne diese Fähigkeit des Neubeginnens, des Anhaltens und des Eingreifens wäre ein Leben, das wie das menschliche Leben, von Geburt an dem Tode zueilt, dazu verurteilt, alles spezifisch Menschliche immer wieder in seinen Untergang zu reißen und zu verderben.“

 

Das Anfangen ist der Genius der Fehlers. „Der Anfang ist auch ein Gott, wo er waltet, rettet er alles!“  Plato.

 

Bald zweieinhalb Jahrtausende später gilt der Anfänger in unserem Sprachgebrauch allerdings als alles andere als göttlich.

Aber, und das macht zuversichtlich, die Grammatik des Misstrauens löst sich ebenso auf wie das Klammern an Stabilität und Sicherheit. Wir brauchen den Rhythmus von Sicherheit und Unsicherheit. Vielleicht ist in Deutschland die Angst vor Unsicherheit so groß, weil jene tiefe Sicherheit und jenes Urvertrauen zu schwach sind, die es erlauben Unsicherheit zu wagen? Man muss einem System mehr Basissicherheit geben, wenn es Unsicherheit und Neues produzieren soll.

Der eherne Käfig der Moderne, ein Bild von Max Weber, wird heute gesprengt. Seine Gitter waren der Preis der Sicherheit in der Industriegesellschaft. Dass diese Gitter und Gatter morsch werden, erleben viele Menschen eher als bedrohlich denn als verheißungsvoll. Aber könnten ihre Schmerzen nicht als Wehen einer zweiten Geburt gedeutet werden? Wir sind ausgesetzt in Freiheit! Wir erleben die Chance und den Zwang uns und unser Leben selbst zu erfinden. Sich und die Welt bilden! Nicht nachbilden oder ausbilden, nicht mehr Anwender sein, sondern Mitspieler werden.

 

Die Moderne bedeutet ja immer schon, dass die Menschen sich aus der Tradition lösen und sich ihre Welt erfinden. Aber für die meisten Menschen fand die Moderne in Fabriken oder in anderen geschlossenen Räumen statt, eben in den weberschen „ehernen Gehäusen der Hörigkeit“. Diese Käfige, deren Sicherung und Vergoldung das Hauptziel des westlichen Konsumismus wurde, zerbrechen nun an ihrer Eigenlast. Es ist gar nicht mehr nötig sie zu sprengen. Dass die Käfige  einstürzen und dass eine Kulturrevolution von oben diesen Abbruch unterstützt, scheint vielen höchst verdächtig zu sein. Ist das die allerletzte List des Kapitals, uns um unseren heroischen Widerspruch zu bringen?

 

Freiheit ist nun kaum noch die Freiheit von etwas, sie wird zur Freiheit zu etwas. Damit haben wir wenig Erfahrung. Drachenkämpfe sind nicht mehr nötig. Wir können niemand anderen mehr für uns verantwortlich machen, wenn wir unser Leben versäumen. Auch das ist für viele ein unerträglicher Gedanke.

 

Also haben wir keine andere Wahl, als uns auch mit unseren Schatten wieder anzufreunden. Die List dieser Freundschaft könnte ja sein, dass sie mehr zur Kultivierung des Mangels beiträgt, als dessen Verteufelung. So geht es also immer darum, aus „dieser wunderschönen Wunde“ von der Franz Kafka sprach, etwas zu machen und endlich die sich selbst erfüllenden Prophezeiung, die Erde sei nur ein Jammertal, aufzugeben! Dann könnten wir auch auf den Paradiesglauben verzichten, in dessen Namen das Endliche, Unvollkommene und Fehlerhafte gedemütigt, verfolgt und vernichtet wird.

Das wäre die List eines „Lob des Fehlers“: den Erlösungsglauben in eine vielfältigere, irdischere, allerdings auch sterblichere Energie zu transformieren, in eine radikale Gegenwart, die Vergangenheit und Zukunft verbindet.

 

Der chilenische Biologe Humberto Maturana erzählt  das Gleichnis von einem Mann, der an einer Klippe steht und es wagt eine Schritt ins Bodenlose zu setzen. Und wie er diesen Schritt wagt, wächst ihm Boden unter den Füßen. Ein ähnliches Bild gibt es bei Franz Kafka. Ein Mann geht eine Treppe hoch, die bricht plötzlich ab. Vor ihm der Abgrund, das Nichts. Aber wenn er weiter geht, und nur wenn er weiter geht, wächst die Treppe mit.

 

Also Schritte ins Leere wagen! Angst darf dabei eigentlich nicht hindern. Vielleicht sollten wir uns sogar viel mehr Angst zugestehen, denn Angst ist ein hervorragendes Erkenntnismittel. Sie ist eine der empfindlichsten Sonden, die wir haben. Was einen allerdings das Fürchten lehren kann, ist die verbreitete Angst vor der Angst. Die lähmt.

Unser größter Mangel heute ist einer an Anfängen. Wir leiden am Syndrom einer Zu-vieli-sation, an einer neuen Form von Traurigkeit: „Wir sollten den emotionalen Druck, der jetzt auf uns lastet nicht unterschätzen,“ schreibt der amerikanische Literaturwissenschaftler Geoffry Hartmann über die „eigenartige Traurigkeit des Individuums“. „Ich fühle mich jedesmal armselig und mutlos“, schreibt er, „wenn ich mehr Verbraucher als Produzent bin.“

Wer produziert, macht Fehler. 

Nur wer ausführt, was sich schon bewährt hat, wer wiederholt und nachplappert, glaubt keine Fehler zu machen.

Genau genommen: er vermeidet kleine Fehler und macht dabei den großen, er vermeidet sich selbst.

 

Epilog von  Luis Jorge Borges

 

Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte, im nächsten Leben, würde ich versuchen, mehr Fehler zu machen. Ich würde nicht so perfekt sein wollen, ich würde mich mehr entspannen. Ich wäre ein bisschen verrückter als ich gewesen bin, ich würde viel weniger Dinge ernst nehmen. Ich würde nicht so gesund leben. Ich würde mehr riskieren, würde mehr reisen, Sonnenuntergänge betrachten, mehr bergsteigen, mehr in Flüssen schwimmen.

Ich war einer dieser klugen Menschen, die jede Minute ihres Lebens fruchtbar verbrachten; freilich hatte ich Momente der Freude, aber wenn ich noch einmal anfangen könnte, würde ich versuchen, nur mehr gute Augenblicke zu haben. Falls du es noch nicht weißt, aus diesen besteht nämlich das Leben; nur aus Augenblicken; vergiss nicht den jetzigen. Wenn ich noch einmal leben könnte, würde ich von Frühlingsbeginn an bis in den Spätherbst hinein barfuss gehen. Und ich würde mehr mit Kindern spielen, wenn ich das Leben noch vor mir hätte. Aber sehen Sie,  ich bin 85 Jahre alt und weiß, dass ich bald sterben werde.