Begeisterung, die begeistert

04. NOVEMBER 2003

Begeisterung, die begeistert

Noch liegt Reinhard Kahls Film „Treibhäuser der Zukunft“ nur in einer halbstündigen Vorfassung vor. Nächstes Jahr soll das Werk über Ganztagsschulen in einer 90-minütigen Version als Teil eines vom Bundesministerium für Bildung und Forschung initiierten Medienpakets als DVD mit Broschüre erscheinen. Aber bereits in der „Kurzfassung“ ist „Treibhäuser der Zukunft“ auf viel Resonanz gestoßen.

„Nur wenn wir selbst von etwas begeistert sind, können wir auch andere begeistern!“ Auf Bildung war dieser Satz einst nicht gemünzt, aber er sollte ein Leitgedanke in diesem Bereich werden, wenn es nach dem Journalisten und Filmemacher Reinhard Kahl geht. Begeisterung scheint in jedem Fall durch, wenn dieser über Ganztagsschulenmodelle berichtet – und diese Begeisterung überträgt sich auf seine Zuschauer. So geschehen auf der Startkonferenz zum Investitionsprogramm „Zukunft Bildung und Betreuung“ Anfang September in Berlin, wo dem Plenum Kahls Kurzfilm „Treibhäuser der Zukunft“ vorgeführt wurde.

Der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Film hinterließ einen nachhaltigen Eindruck bei allen Diskussionsteilnehmern, die ständig auf ihn Bezug nahmen. Die in „Treibhäuser der Zukunft“ dargestellten Ganztagsschulen wurden als Referenzpunkt, wie Schule sein sollte, immer wieder ins Feld geführt. Wieso lösten die etwa 30 Minuten beim Publikum so starke Reaktionen aus? Ist es die Begeisterung, die andere begeistert?

Bilder sprechen für sich

Das Erfolgsrezept von Kahl scheint paradox: Seine Begeisterung ist unaufgeregt. Angenehm unaufgeregt. Mit ruhiger Stimme kommentiert der 55-Jährige das Geschehen, er findet passende Schlagworte, überschlägt sich aber nicht in seinen Wertungen. Oft nimmt er sich auch ganz zurück und lässt die Bilder sprechen.

Und Kahl beherrscht die Bildsprache. Den alten Schultyp des klassischen Frontalunterrichts mit Pausenklingel nennt er „Belehrungsschule“, eine Schulform, welche die Schüler auf ein Funktionieren in der Industriegesellschaft vorbereiten sollte. Dies wird mit der Arbeitsanweisung einer Lehrerin im Sprachlabor illustriert („Und dann wird geübt!“), woraufhin sich die Tonbänder in Bewegung setzen. Schnitt: Im nächsten Bild drehen sich Bänder und Räder in einer Fabrik. Bilder nur allzu gleich: Vom Funktionieren im Labor bis zum Funktionieren in der Fabrik war es lediglich ein kleiner Schritt. „Lernen gerät in die Nähe von Fronarbeit“, kommentiert Kahl das. Doch beim Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft reiche es nicht mehr, Kinder in Bewegung zu setzen: „Innovation kann nicht angeordnet werden“, so der Autor.

Und Schnitt: Ein wahrer Quantensprung. Statt der in Schwarzweiß im Gänsemarsch marschierenden Schüler, statt der wie mit dem Lineal gezogenen Tischreihen, hinter denen die Kinder wie Wachsfiguren kleben, kommt nun Farbe und Bewegung ins Spiel. Reinhard Kahl mischt sich mit seiner Kamera unter die Schüler der Bodensee-Schule St. Martin in Friedrichshafen, einer katholischen Grund- und Hauptschule. Die Schüler begrüßen dort ihren Lehrer per Handschlag, beginnen selbstständig und unaufgefordert mit ihrer Arbeit. Die Schule „riskiert“ hier das „Selbstverständliche“: „Die Schüler lernen selbst“ – und motivieren sich selbst.

Kamera auf Augenhöhe

Kahl lässt die Kamera immer auf Augenhöhe der Schüler, er blickt nicht auf sie herab, sondern zeigt sie so, wie er sie auch in der Schule akzeptiert wissen will: Als gleichberechtigtes Gegenüber. In den altersgemischten Arbeitsgruppen funktioniert dies laut Klassenlehrer Michael Bucher schon bestens: „Kinder lernen von Kindern.“

Es gilt für alle Bilder, die in den Schulen eingefangen werden: Man sieht keine Aggressivität, kein Über Tische und Bänke-Gehen, sondern ruhige, konzentrierte und sich gegenseitig helfende Schüler. Sie singen, musizieren, spielen Billard und Fußball, fahren Fahrrad oder werkeln im Handwerksraum. Für Kahl sind die über den Tag verteilten Arbeitsgemeinschaften eine neue „Choreographie von Schule, der Abschied von der alten Schulplanwirtschaft“. Der Lehrer wird dabei Teil der Gruppe – auch dies ein augenfälliger Unterschied zum Frontalunterricht alter Schule.

Einen Beleg, dass Ganztagsschulen funktionieren, findet Kahl auch beim Blick über den nationalen Tellerrand und stellt etablierte Ganztagsschulen in Finnland, Schweden, Dänemark und Kanada vor. Können sich so viele Länder, deren Schüler im PISA-Test besser abschnitten als die deutschen, in ihrem Bildungsansatz irren?

Moderne Architektur, offen und lichtdurchflutet; Grundschüler, die bereits vor dem Computer unterrichtet werden; finnische Schüler, die bei Lernschwierigkeiten Einzelunterricht erhalten – für Kahl ist es die Mischung aus Individualismus und Zusammenarbeit, die den Erfolg einer modernen Schule ausmacht. Hier sollten Schüler die „Vorfreude auf sich selbst“ erlernen.

Zeit füreinander zu haben, ist ein Wert an sich

Dies erfordert besondere Anstrengungen der Lehrer. Monika Teitz, Klassenlehrerin der Martin Luther-Hauptschule im nordrhein-westfälischen Herten, die zur Ganztagsschule umgebaut worden ist, empfindet die Arbeit bis in den Nachmittag hinein als „anstrengend, aber wir haben einfach mehr Zeit.“ Zum Beispiel für Hausaufgabenhilfe.

Zeit füreinander zu haben, ist schon ein Wert an sich: Zeit für ein Lob, Zeit, etwas zu erschaffen, und Stolz auf das Erreichte zu verspüren, sowie Fehler als Ansporn zu begreifen – in der Ganztagsschule erhalten die Schüler mehr Zeit-Räume, dies zu erfahren und daran zu wachsen. „Wertschätzung als Voraussetzung für Wertschöpfung“, nennt Kahl dies. Mit solch griffigen Formulierungen bringt der Journalist seine Gedanken stets auf einen prägnanten Punkt – eine Stärke dieses Films, die bereits beim Titel beginnt.

Mit seinen letzten Bildern zeigt Reinhard Kahl die singende und musizierende Schulband eines Hamburger Ganztagsgymnasiums: Strahlende, lachende Jugendliche – und das in einer Schule! Es fällt schwer, hier nicht begeistert zu sein.

Der Kurzfilm ist ein Vorgriff auf ein Medienpaket aus DVD und Broschüre. Darin werden Beispiele gelungener Schulen, pädagogische Erfahrungen und bemerkenswerte Positionen von Pädagogen und Wissenschaftlern ausführlich dokumentiert. Das Medienpaket wird Anfang 2004 fertiggestellt sein und kann dann beim Bundesministerium für Bildung und Forschung über books@bmbf.bund.de bestellt werden.

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