Auf Euch haben wir (gerade noch) gewartet“

VORTRAG BEIM KONGRESS

KINDER ZUM OLYMP

erscheint jetzt in der Dokumentation des Kongresses

http://www.kinderzumolymp.de/

 

15        Vortrag / Lecture

 

Auf Euch haben wir (gerade noch) gewartet

 

Reinhard Kahl

Journalist und Filmemacher, Hamburg, Deutschland / Germany

 

 

Der Kongreßvortrag wurde frei gehalten. Die Rede wurde mit Ausschnitten aus verschiedenen filmischen Dokumentationen kombiniert. Das geschriebene Manuskript behält den Montagestil bei. Schwerpunkte wurden leicht verändert.

 

I. Drei Betonungsübungen

 

In der Bildung hängt vieles von kleinen Unterschieden ab. Zum Beispiel von der Betonung dieses Satzes: „Auf Euch haben wir gewartet.“ Klingen diese 23 Buchstaben nach einer Einladung? Etwa so: „Hey, kommt her! Ihr seid schon ganz gut, vielleicht steckt in Euch aber noch viel mehr als Ihr denkt. Laßt uns was draus machen.“ Oder senden die gleichen Buchstaben, nur anders betont, eine ganz andere Botschaft: „Auf Euch haben wir gerade noch gewartet… Ihr fehlt mir noch… Ich wundere mich schon gar nicht mehr… Ihr werdet noch Euer blaues Wunder erleben…“ Man kennt diesen misanthropischen Sound. Manch einem ist er vertrauter als die freudige Aufforderung zum Zusammenleben.

 

Natürlich ist diese Gegenüberstellung etwas schwarz-weiß. Die Wirklichkeit spielt sich in Zwischentönen ab. Aber die Grundfrage ist doch, ob Kinder freudig begrüßt oder mißbilligend gemustert werden. Ist Erziehung eine Einladung an die nächste Generation, oder wird mit dem sogenannten späteren Leben gedroht und dabei zudem noch behauptet, die Gegenwart sei erst ein Vorspiel? Die Basis von Bildung sollte das Versprechen von Zugehörigkeit sein und nicht etwa Ausgrenzung, Abwertung und negative Zuschreibung.

 

Wollen Erwachsene die Kinder und Jugendlichen in ihre Welt hineinziehen? Verstehen sie das unter Erziehung? Oder suchen sie erst mal nach Fehlern? Steht hinter den Handlungen der Erwachsenen diese Geste: „Seht her, das ist unsere Welt“? Dieser Ton verlangt allerdings einen gewissen Stolz der Erwachsenen.

 

Man ahnt es schon: In der Bildung und der Erziehung geht es immer auch um das Verhältnis, das die Erwachsenen zu sich selbst und zu ihrer Welt haben. Die Diskurse über Bildung und Erziehung sind zugleich Selbstgespräche der Gesellschaft. Wo kommen wir her? Wo wollen wir hin? Was ist derzeit Stand der Dinge?

 

„Im Grunde ist Bildung doch nichts anderes als das Generationenverhältnis,“ sagt Hartmut von Hentig. Sucht man nach den Talenten der Schüler, glaubt man daran, wie Georg Christoph Lichtenberg sagt, daß „jeder des Jahres wenigstens einmal ein Genie ist“, oder sucht man in den Schulen nach den blinden Passagieren, die dort nicht hingehören? Werden Lehrer von ihren Schülern geachtet oder bekriegt? Wie kommt es bloß, daß es in Deutschland immer noch irgendwie selbstverständlich zu sein scheint, daß Schüler die Lehrer als ihre Feinde ansehen?

 

Und warum ist hierzulande eine Figur allzu vertraut, für die man anderswo zuweilen ein Lehnwort aus dem Deutschen benutzt – der „Streber“? Als stünden Schülerinnen und Schüler, die viel wissen und die in der Schule ganz einfach gut sein wollen, im Verdacht der Kollaboration mit dem Feind.

 

Warum gehen in Deutschland viele Kinder zur Schule wie zum Zahnarzt? Andererseits: Warum unterrichten viele Lehrer lieber Fächer statt Kinder und Jugendliche, und warum frönen sie immer noch der sogenannten „Osterhasenpädagogik“, bei der sie das Wissen verstecken, um ihre Schüler danach suchen zu lassen? Warum nur interessieren sich Lehrer häufig so sehr für die Fehler der Schüler, und zwar nicht, damit diese daraus lernen, sondern um sie ihnen anzukreiden?

 

Apropos Fehler. Auch hier hängt wieder alles von einem scheinbar kleinen Betonungsunterschied ab. „Hast Du heute schon wieder Fehler gemacht?“ Vielleicht haben Sie ähnliche Erinnerungen? Gereizte Fragen der Eltern beim Mittagessen. Den Vormittag schon hatte sich die pädagogische Inquisition an Mathe, Latein und Erdkunde erprobt. Nur nichts falsch machen! Das war hinter all dem Stoff die Botschaft der roten Tinte. Die Gegenreaktion der Schüler: Perfektion vortäuschen. Intelligent gucken, statt angeblich dumme Fragen zu stellen. Aber was sind eigentlich dumme Fragen beim Lernen?

 

„Hast Du heute schon einen Fehler gemacht?“ Die gleiche Frage, nur ganz anders betont, empfehlen Unternehmensberater neuerdings als eine Art Mittagsmeditation. Sie dient nun einer ganz anders temperierten Selbsterforschung. Habe ich schon etwas gewagt? Der Fehler gilt nicht mehr als Sünde, sondern als Auszeichnung, denn am Fehlversuch geben sich Grenzgänger zu erkennen. Wer Neuland betritt, macht Fehler, unweigerlich. Wer keine gemacht hat, der hat sich nicht bewegt. Diese Eintragungen von Fehlern im mentalen Paß sind für Scouts kein Makel. Wer in diesem Paß keine Antragung hat, der hat schlechte Karten. Das ist gewissermaßen ein neues pädagogisches Testament: Der Fehler ist das Salz des Lernens, ja, des Lebens. Man stelle sich vor, die Einzeller hätten einen perfekten Schutz gegen Kopierfehler bei ihrer Vermehrung entwickeln können? Es würde uns nicht geben. Nur die Mutation ermöglicht die Evolution und nur Fehler ermöglichen das Lernen. Beim Laufenlernen der Kinder kann man es am besten beobachten: Laufen ist aufgefangenes Fallen. Schritt für Schritt. Das bleibt ein Leben lang so. Ein Wechsel von Stabilität und Instabilität. Dem verdanken wir sogar den aufrechten Gang.

 

Das Verhältnis zum Fehler läßt heute ablesen, wo wir im Übergang von der Industriegesellschaft zu einer Wissensgesellschaft, oder wie Bundespräsident Horst Köhler sagt, zu einer Ideengesellschaft, stehen. „Macht mehr Fehler und macht sie früher!“ Solche Parolen füllen dem Management-Guru Tom Peters in den USA die allergrößten Hallen. Vorstände der mächtigsten Konzerne zahlen Mordshonorare, um sich privatissime von ihm irritieren zu lassen. Irritation ist kostbar. Der verstorbene Meister der Paradoxien und der Systemtheorie, Niklas Luhmann, meinte sogar, Irritationsfähigkeit sei die wesentliche Voraussetzung dafür, Neues lernen zu können.

 

„Macht mehr Fehler und macht sie früher!“ Daß dieser Ruf heute von den Feldherrenhügeln im Unternehmerlager, gewiß nicht aus jedem Betrieb, kommt, das hätten wir uns damals in der Schule nicht träumen lassen – und wir haben viel geträumt im Unterricht. Aber es liegt ja auf der Hand. Wenn es darum geht, eine Atmosphäre für Kreativität zu schaffen, wenn die Hürden vor dem Wagnis, selber zu denken, genommen werden sollen, dann muß die Angst vor dem Fehler abgebaut werden. Denn nur was schief gehen darf, das kann gelingen. Natürlich geht es nicht darum, alte dumme Fehler zu wiederholen, sondern neue, intelligente Fehler zu wagen. „Ich ernähre mich von meinen Fehlern“, sagte Joseph Beuys.

 

Noch ein dritter Satz, dessen Sinn sich mit einer anderen Betonung in sein Gegenteil verkehrt. Ein Lehrer sagt über seine Schüler, „die machen, was sie wollen.“ Spricht er herablassend oder voller Achtung? Liegt Wollen auf seiner semantischen Karte in der Nähe von Beliebigkeit, Anarchie und Chaos oder in der Nachbarschaft von Staunen, Wünschen und Denken, also in einer Landschaft, wo Differenzen als interessant und wertvoll geschätzt werden, wo Ideen gedeihen, weil jede Nuance wertvoll ist, weil sie folgenreich sein könnte.

 

Diese drei großen Unterschiede, die sich aus kleinen Unterschieden – Unterschieden nicht mal des Wortlauts, sondern nur der Betonung – ergeben, sollen darauf hinweisen, wie sehr es auf die Atmosphäre ankommt. Wie wird etwas gesagt oder gemacht? Nicht nur, was wird gesagt oder getan. Dinge entstehen zwischen den Menschen und zwischen ihren Interessen und den Objekten des Interesses. „Die Welt liegt zwischen den Menschen, und dies Zwischen – viel mehr als, wie man häufig meint, die Menschen oder gar der Mensch – ist heute Gegenstand der größten Sorge und der offenbarsten Erschütterungen in nahezu allen Ländern der Erde.“ Das sagte Hannah Arendt, als sie sich am 28. September 1959 in Hamburg für den Lessing Preis bedankte. Das Wie, das Zwischen, die Atmosphäre, das Vertrauen und das Selbstvertrauen, das alles sind Wörter, die für die weichen Faktoren stehen, Wörter, die man in den Präambelsätzen und Leitbildern gern beschwört, denen man aber im Zweifelsfall doch nicht so ganz traut. Ich werde diese Gedanken mit Hannah Arendts Hilfe noch einmal aufnehmen. Aber zuvor eine erste Exkursion in den Alltag einer gelungenen Schule. Wenn sie auch noch nicht in der Mehrheit sind – es gibt sie, die gelungenen Schulen.

 

 

II. Exkursion zum Bodensee

 

Wir suchen bei unserer Expedition ins pädagogische Neuland nach einer Schule, die nicht im Verdacht steht, von den Verhältnissen verwöhnt zu werden. Keine Vorzeige- oder Ausnahmeschule. Vielleicht auch eine Hauptschule, die gelingt. In den Großstädten ist sie die Restschule der Bildungsverlierer. Aber auch in Süddeutschland, wo auf dem Land noch die Hälfte der Kinder nach der vierten Klasse auf der Hauptschule bleibt, wie man bezeichnender Weise sagt, ist sie längst nicht mehr die Hauptschule.

 

Wir fahren zur Bodensee-Schule in Friedrichshafen. Eine katholische Grund- und Hauptschule, an der die Hälfte der Schüler in einer oben draufgesetzten 10. Klasse, der „Werkrealschule,“ den Realschulabschluß schafft. Aber lassen wir diese Heraldik des zerklüfteten deutschen Bildungssystems. Gehen wir gleich in den Unterricht.

 

Der Lehrer ist morgens als erster in der Klasse. Wie ein Gastgeber bereitet er sich und den Raum vor. Die meisten Schüler kommen ebenfalls vor Unterrichtsbeginn und legen los. Einfach so, ohne Gong, als wäre das Lernen ihre ureigene Sache. Eine Idylle? Nein. Es ist der Alltag in der Klasse von Lehrer Franz Gresser. Wir erleben hier das ganz normale Zivilisationsniveau eines Büros. Aber wir sind in einer Schule, und die Besucher trauen ihren Augen nicht. Denn wir sind in einer siebten Klasse, die Schüler in der Pubertät. Das sei eigentlich der Tiefpunkt, hört man überall – 7. Klasse Hauptschule, oh je! Aber vom pädagogischen Lazarett ist hier nichts zu spüren. Woran liegt das? „Wenn du merkst, daß du auf einem toten Pferd sitzt, steig ab!“ Mit dieser Weisheit der Dakotaindianer hat sich Alfred Hinz Mut gemacht. Hinz war bis zum Sommer 2005 der Schulleiter. Nun verbreitet er als Pensionär seine Ideen. Die Fächer wurden an der Bodensee-Schule abgeschafft. An ihre Stelle treten Freiarbeit, vernetzter Unterricht und Projekte. Freiheit und Struktur sind das Yin und Yang dieser Schule. Die Grundidee heißt vorbereitete Umgebung. Die Wände in den Klassen sind voller Regale mit Arbeitsmaterial, aus dem sich die Schüler bedienen. Die ersten drei Stunden sind jeden Tag FSA, Freie Stillarbeit. Jeder Schüler macht in dieser Zeit etwas anderes. Der eine Deutsch, der andere Geometrie. Und alle arbeiten auf unterschiedlichem Niveau. Jeder hat seinen eigenen Lehrplan. Den hat keine Zentrale geschrieben. Er entsteht im Dialog des Lehrers mit seinen Schülern, wie eine aus lauter Dominosteinen zusammengelegte Figur. Die Steine sind bei allen Schülern die gleichen, aber es entstehen andere Figuren. Wer sich mit bestimmten Aufgaben lange schwer tat, erledigt vielleicht ein Jahr später im gleichen Metier ein großes Pensum mit links. Oder er bleibt langsam. Lernprozesse sind alles andere als linear. Also lernt jeder Schüler auf seine Weise. Das leuchtet ein. Aber wie wird das pädagogische Babylon verhindert, wenn jeder macht, was er will?

Lehrer Gresser schmunzelt nachsichtig. Solche Fragen hört er dauernd. Wie schaffen sie nur diese Ruhe in der Klasse, wenn jeder etwas anderes macht? „Eben“, sagt er. „weil jeder seine Sache macht. Jeder weiß, er macht das Richtige für sich und ist dann auch zufrieden und weiß, daß ich mich um ihn kümmere.“ Auf jedem Tisch liegt ein Strecker, ein linealgroßes Holz mit dem Namen des Schülers. Wer Gressers Hilfe braucht stellt den Strecker aufrecht.

 

Wenn es für die alte Schule typisch war, daß die Schüler den Lehrer verstehen sollten, so ist es für diese Art Schule typisch zu machen, daß der Lehrer versucht, seine Schüler zu verstehen. Das ist mehr als eine pädagogische Methode. Es geht um das Eigene der Schüler, es geht darum, ihre Eigenzeit zu finden, ihre besonderen Fähigkeiten auszuloten und an ihren Schwächen zu arbeiten. Respekt vor dem Eigensinn scheitert im normalen Unterricht oft schon dran, daß er als Quelle möglicher Störungen vorsorglich bekämpft wird. Das ist für Alfred Hinz das Grundübel der alten Schule. „Ich kann doch nicht morgens einen Einheitsbrei über die Kinder gießen und sagen: jetzt lernt euch! – würde man im Ruhrgebiet sagen.“ Dort ist Hinz im katholischen Milieu aufgewachsen. Die Quelle seiner pädagogischen Inspiration ist durchaus religiös. Kinder sind Funken Gottes. Individualität ist etwas Göttliches. Es ist ein Vorteil, verschieden zu sein. Die Unterschiede sind keine Abweichungen von der Norm oder vom großen Ideal. Sie sind keine Gestalten der Erbsünde, wie eine andere Interpretation des Christentums nahelegt. „Das Entscheidende“ sagt Hinz, „ist, daß wir kapiert haben, daß jedes Kind für sich einmalig ist und nicht noch einmal auf der Welt existiert.“

 

Unlängst kam Bernhard Bueb, Leiter des Edelinternats Salem, das keine 30 Kilometer entfernt hinter den Hügeln liegt, für zwei Tage zum Hospitieren an die Bodensee-Schule. „Die machen viel besseren Unterricht als wir“, attestierte er und fährt fort: „Was ich an der Bodensee-Schule erlebt habe, ist Begeisterung von Kindern, Arbeitshaltung, Konzentration – alles Eigenschaften, die selten sind in der Schule.“ Die Lehrer arbeiten dort allerdings mehr, aber „mit mehr Freude,“ hat Bueb beobachtet, „sie empfinden die Schule nicht als Belastung.“

Lehrer Gresser führt die siebte Klasse schon zwei Jahre und wird sie noch zwei Jahre behalten. Das Unterrichtsmaterial in den Regalen hat er mit seinen Kollegen selbst erstellt. Ohne Austausch mit den Kollegen in der Schule ließe sich diese „vorbereitete Umgebung“ gar nicht bauen. Es gibt Arbeitsplätze für Lehrer und einen Raum voller Ordner mit Unterrichtsvorbereitungen. Darin, so Alfred Hinz, lagere das Gedächtnis der Schule. Sie ist mit anderen, ähnlich arbeitenden Schulen im Austausch. Dem Konzept der Bodensee-Schule folgen inzwischen mehr als 20 katholische Schulen im Südwesten, darunter auch Gymnasien, die sich allerdings mit diesen neuen pädagogischen Ideen etwas schwerer tun. Marchtaler Plan heißt das Konzept, benannt nach einer Tagungsstätte.

 

Der Besucher verläßt die Schule in Friedrichshafen mit gemischten Gefühlen. Ist da nicht noch ein Geheimnis? Man hat einen sozialen Organismus erlebt, der auf seine Weise ein Individuum ist. Die Schule, schon Anfang der siebziger Jahre von Eltern gegründet, hat ihre Biographie. Sie läßt sich nicht in Blaupausen für soziales Engineering übersetzen, ohne daß dabei etwas Entscheidendes verlorengeht. Die Hoffnung, daß es den Stein der Weisen für die richtige Schule geben könnte, muß man enttäuschen. Gelungene Organisationen zu kopieren, wäre so etwas wie das Klonen von Individuen. Es ist nicht nur ethisch fragwürdig, es wird dank der unvermeidlichen Kopierfehler gar nicht gelingen, vor allem aber entspringt schon die Absicht dem fatalen Wunsch, das Wagnis der eigenen Biographie zu vermeiden. Das gilt für Personen wie für Organisationen.

 

 

III. Hannah Arendt: Ein Jemand sein

 

Hannah Arendt geht es um das Wagnis, ein Jemand zu sein, nicht nur eine Rolle zu spielen oder zu funktionieren. Denn „jeder Mensch steht an einer Stelle in der Welt, an der noch nie ein anderer vor ihm stand,“ schrieb sie in ihrem Buch Vita activa, das sie ursprünglich Amor Mundi, Liebe zur Welt, nennen wollte. Erst aus dieser nicht weiter reduzierbaren Verschiedenheit und Eigenheit eines jeden, Hannah Arendt nannte sie die Pluralität der Menschen, ergibt sich die Möglichkeit zu Verständigung. Wenn alle identisch wären oder sein sollten, wäre Verständigung weder nötig noch denkbar. Der Preis von Pluralität allerdings ist eine ursprüngliche Fremdheit: „Das Risiko, als ein Jemand im Miteinander in Erscheinung zu treten, kann nur auf sich nehmen, wer bereit ist, im Miteinander unter seinesgleichen sich zu bewegen, Aufschluß zu geben, wer er ist und auf die ursprüngliche Fremdheit dessen, der durch Geburt als Neuankömmling in die Welt gekommen ist, zu verzichten.“

 

Auf seine ursprüngliche Fremdheit verzichten! Ein gewöhnungsbedürftiger Gedanke. Im Gegensatz zu unserer Tradition sagt er, am Anfang war kein Paradies! Aber mit dem Aufbau einer gemeinsamen Welt läßt sich diese ursprüngliche Fremdheit überwinden! Der Misanthrop allerdings ist ein Mensch, der nicht auf seine Fremdheit verzichten mag. Er flüchtet aus der offenen Welt und sucht Unterschlupf, häufig leider in den beschützenden Werkstätten der Erziehungsinstitutionen. Auch dort bleibt er ein Vereinzelter und Fremder, er wird wehleidig und treibt sein menschenverachtendes Unwesen. In ihrer Lessing-Rede charakterisierte sie den Misanthropen als einen, „der niemanden findet, mit dem er die Welt teilen möchte, daß er niemanden gleichsam für würdig erachtet, sich mit ihm an der Welt und der Natur und dem Kosmos zu erfreuen.“

 

Personen, also Menschen, die es wagen, ein Jemand zu sein und sich mit anderen anzufreunden, treffen nicht unvermittelt aufeinander. Sie spielen ihre Bälle über Bande. Mit Hannah Arendt möchte man sagen, über Freundschaftsbande. Denn, man muß diesen großen Satz aus ihrer Lessing- Rede wiederholen, „die Welt liegt zwischen den Menschen, und dieses Zwischen –  viel mehr als, wie man häufig meint, die Menschen oder gar der Mensch, ist heute Gegenstand der größten Sorge.“ Das Zwischen ist der Raum, in dem die gemeinsame Welt gebildet wird. Das Zwischen verlangt Differenz, weder einheitlich noch das Dogma der einen und einzigen Wahrheit.“ Jede Wahrheit, ob sie nun den Menschen ein Heil oder ein Unheil bringen mag, ist unmenschlich im wörtlichsten Sinne, weil sie zur Folge haben könnte, daß alle Menschen sich plötzlich auf eine einzige Meinung einigten, so daß aus vielen einer würde, womit die Welt, die sich immer nur zwischen den Menschen in ihrer Vielfalt bilden kann, von der Erde verschwände.“

 

Die Bedrohung ihrer eigenen Welt durch Wahrheitsbesitzer gehört zu den Traumatisierungen vieler Menschen in der Schule. Dabei wäre die Schule als gemeinsamer Raum der Generationen der geeignete Ort, um im Spiel mit Unterschieden Neues zu erzeugen. Denn die generative Kraft etwas anzufangen, was noch nie war, baut sich im Generationsverhältnis auf. Wenn auch Erziehung als Handlung der Erwachsen für Hannah Arendt im Kern eine konservative Angelegenheit ist, so ist das Generationenverhältnis alles andere als konservativ: „Es geschieht nichts Neues unter der Sonne, es sei denn, daß Menschen das Neue, das in die Welt kam, als sie geboren wurden, handelnd als einen neuen Anfang in das Spiel der Welt werfen.“

 

Etwas anzufangen und sich zu exponieren wäre ein Maß für das Erwachsensein. Emphatisch entwickelte Hannah Arendt dieses Bild an Rahel Varnhagen, einer deutschen Jüdin im 18. Jahrhundert: „Ungebunden, vorurteilslos, gleichsam in der Situation des ersten Menschen, ist sie gezwungen, sich alles so anzueignen, als ob es ihr zum ersten Male begegnete. Worauf es ihr ankam, war, sich dem Leben so zu exponieren, daß es sie treffen konnte wie Wetter ohne Schirm.“

 

Wie weit wir von diesem Mut entfernt sind, zeigt der Klappentext der aktuellen Ausgabe ihres Buches „Rahel Varnhagen – Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik“. Auf dem Deckel zitiert der Verlag diese Passage folgendermaßen: „Worauf es ihr ankam, war, sich dem Leben so zu exponieren, daß es nie treffen konnte wie Wetter ohne Schirm.“ Aus „sie“ wurde „nie“. Die Veränderung nur eines Buchstabens reicht für die völlige Verdrehung des Sinns.

 

Für Hannah Arendt war, wie für Immanuel Kant, das Erwecken der Vernunft eine zweite Geburt, ein selbst gemachter Anfang gegen das Gelebtwerden. Denn die erste Geburt haben wir uns nicht ausgesucht. Die erste Geburt war für Kant ein „Skandal des Anfangs“, den Menschen nur kompensieren können, wenn sie sich die Freiheit zu weiterem Anfangenkönnen nehmen. Die Urszene des Anfangens ist das Staunen. Auf sie folgt die Kraft des Anfängers, der selbst anfangen kann. Und weil jeder einen anderen Anfang hat, ja, ein anderer Anfang ist, weil jeder Mensch ein Dissident ist, nur deshalb kann er Individuum sein. Seine Unvollkommenheit ist die Voraussetzung für seine Einzigartigkeit.

 

„Die Art und Weise wie der Anfangende das Neue in die Wege leitet, wird für ihn selbst, wie für alle, die sich ihm anschließen, um das Unternommene zu Ende zu führen, zu einem Gesetz, das die Handelnden wohl modifizieren, aber nicht mehr schlechterdings brechen können, ohne das Begonnene zu ruinieren. Diesen Sachverhalt kann man auch so formulieren, daß man sagt: „Der Anfang ist das Prinzip jedes Handelns, als Prinzip hält er sich durch, auch wenn er selbst längst vergangen ist, beseelt von nun an alles, was auf ihn folgt, bleibt sichtbar in der Welt.“

 

Wenn Erziehung den besonderen Anfang, der ein jeder Mensch ist, stärken und weiter treiben soll, wenn es darum geht, den Anfang zu einem unverwechselbaren Individuum zu kultivieren, dann kann sich Erziehung nicht in Belehrung, in bloßer Vermittelung von Wissen erschöpfen. Erziehung besteht nicht in den Sachen und Stoffen, die verbreitet oder umgefüllt werden, sie besteht in der Art des Handelns, Denkens und Sprechens, in der Erwachsene agieren und auf Kinder wirken. Man könnte altmodisch sagen, Erziehung wirkt durch Vorbilder. Sie wirkt weniger über das Was als vielmehr durch das Wie. Hinter dem Was, den Sachen und Ur-Sachen, hinter dem Stoff der auskristallisierten Welt kann man sich verstecken. Hinter sein Wie kann keiner zurücktreten. Darin offenbart sich die Person, ja, es ist die Person. Mit ihrer besonderen Art verbreiten Menschen Atmosphäre; und aus Atmosphären kann etwas Festes auskristallisieren.

 

Menschen brauchen also nicht Erziehung, um den Anfängerstatus bald hinter sich zu lassen, sondern um ihn überhaupt erst zu gewinnen. Man könnte sagen, das Ziel wäre, Anfänger auf immer höheren Niveau zu werden. Das ist ein Synonym dafür, eine Person, ein Jemand zu sein. Sich niemals damit zu begnügen, ein Funktionär zu sein, ein Untermieter in der Welt.  Aber dieses Risiko, „ein Jemand zu werden“, wird nur der auf sich nehmen, der vertraut, der Urvertrauen erfahren hat. Deshalb muß Erziehung ein freundliches Willkommen in der Welt bereiten. Erziehung ist das Gegenteil jener verächtlichen und abweisenden Begrüßung, die dem Neuankömmling mitteilt, ein falscher zu sein, der erst ein ganz anderer werden muß, um in die Gunst von Anerkennung zu gelangen. Auch die Botschaft, ihr seid eigentlich überflüssig, gebraucht werdet ihr nicht, ist ein furchtbares Gift, das Gegenteil dieses In-die-Welt-Hineinziehens. Es entzieht den Kindern die Welt.

Vieles, was zu Recht an unserer Erziehungstradition verurteilt wird, sollten wir lieber Entziehung als Erziehung nennen.

 

Die angemessene Begrüßung für die Neuankömmlinge, wie Hannah Arendt die Menschenkinder nannte, ist eine Frage, die uns gar nicht geläufig ist. „Wer bist Du?“ Wie würde eine Schule aussehen, in der diese Frage vielfach variiert würde? Statt dessen werden auch Kinder schon gefragt: „Was kannst Du“, „Wie hoch ist dein IQ?“

 

Erziehung, und damit das Erwachsenwerden, muß von der verbreiteten Zwangsvorstellung, die nächste Generation müßte einer fertigen Welt angepaßt oder für sie qualifiziert werden, befreit werden. Die Idee einer fragilen Welt sollte an die Stelle treten. Das ist eine Welt, die wir brauchen und die uns braucht.

 

„Erziehen tun wir im Grunde immer für eine aus den Fugen geratene oder geratende Welt, denn dies ist die menschliche Grundsituation, in welcher die Welt von sterblichen Händen geschaffen ist, um Sterblichen für eine begrenzte Zeit als Heimat zu dienen. Weil die Welt von Sterblichen gemacht ist, nutzt sie sich ab; und weil sie ihre Bewohner dauernd wechselt, ist sie in Gefahr, selbst so sterblich zu werden wie ihre Bewohner. Um die Welt gegen die Sterblichkeit ihrer Schöpfer und Bewohner im Sein zu halten, muß sie dauernd neu eingerenkt werden. Die Frage ist nur, daß wir so erziehen, daß ein Einrenken überhaupt möglich bleibt, wenn es auch natürlich nie gesichert werden kann. In der Erziehung entscheidet sich, ob wir die Welt genug lieben, um die Verantwortung für sie zu übernehmen und sie gleichzeitig vor dem Ruin zu retten, der ohne Erneuerung, ohne die Ankunft von Neuen und Jungen, unaufhaltsam wäre. Und in der Erziehung entscheidet sich auch, ob wir unsere Kinder genug lieben, um sie weder aus unserer Welt auszustoßen und sich selbst zu überlassen, noch ihnen ihre Chance, etwas Neues, von uns nicht Erwartetes zu unternehmen, aus der Hand zu schlagen, sondern sie für ihre Aufgabe der Erneuerung einer gemeinsamen Welt vorzubereiten“.

 

 

IV. Die Schulleiterin, die etwas wagt

 

Wie sehr die Person der Erwachsenen das Klima und die Wirksamkeit einer Schule prägen, wird an kaum jemanden so deutlich wie an Enja Riegel, der inzwischen pensionierten Leiterin der Helene-Lange-Schule in Wiesbaden. Inzwischen gründet sie eine neue Schule. Die Helene-Lange-Schule war 1905 das erste Gymnasium in Deutschland, das Mädchen zum Abitur zuließ. Mitte der 80er Jahre konvertierte sie zu einer Gesamtschule ganz eigner Art, mit großen Projekten, viel Theater und einem Drittel weniger Fachunterricht, als erlaubt ist. Bei PISA glänzte diese Schule als eine der besten in Deutschland, noch weit über den Werten von Finnland. Da fragt man sich, so gute Ergebnisse trotz oder wegen des Eigensinns dieser Schule? Die Antwort ist offensichtlich. Die eigenwillige Biographie ist das Erfolgsgeheimnis. Das betrifft die Geschichte der Schule, aber vor allem die der Personen, die sie machen. Und es kommt ganz besonders auf den Schulleiter oder auf die Schulleiterin an, die die Idee der Schule verkörpern.

 

1985 an ihrem ersten Tag als Direktorin der Helene-Lange-Schule sah Enja Riegel schwarz. Das Kollegium trug Trauerkleidung. Ausnahmslos. Die Riegel sollte es nicht werden! Solchen Protest hatte es in einer Schule noch nicht gegeben. Fast 20 Jahre später bedankte sich das Kollegium der Wiesbadener Schule anläßlich der Pensionierung ihrer Schulleiterin mit einem Fest, das eine deutsche Schule noch nicht erlebt hat. Die Lehrer hatten einen Zirkus mit Zelt und abendfüllendem Programm vorbereitet. Denn der Lebenstraum dieser Schulleiterin ist die Manege.

 

Als sie noch Enja Glücklich hieß, war sie bereits Schülerin dieser Schule. Der hochbegabten Enja, die in der Grundschule eine Klasse übersprang, wurde zu Hause der nachzuholende Stoff eingeprügelt. Auch sonst war da manches so furchtbar, daß man es gar nicht erzählen mag. Aber so unglücklich es zu Hause zuging, so sehr sonnte sich Enja neben ihrem Großvater, einem erfolgreichen Geschäftsmann, wenn sie neben ihm auf der Wilhelmstraße in Wiesbaden flanierte. Dann gehörte ihr beinahe die Welt. Von ihm erbte Enja Glücklich die Zuversicht, daß das gelungene Leben das bedrohte retten kann. Die Schule gehörte zu dieser besseren Welt. Sie war ein Gegenstück zum zu Hause erlebten Unglück. In der Schule hatte Enja mitbekommen, was zu ihrer Maxime wurde: Menschen brauchen einen Ort, an dem sie willkommen sind und wo man an sie glaubt.

 

Nach dem Studium der Germanistik und Anglistik begann sie 1969 das Referendariat an ihrer alten Schule und blieb der Hela, wie die Schule genannt wird, noch als junge Lehrerin treu. Aber der Blick ins Lehrerzimmer war desillusionierend. Die routinierte Schulmaschine drehte sich um den Stundenplan und die Fächer. Der Vormittag wurde im 45-Minuten-Takt zerhackt. Aus der neuen Perspektive wirkte die Schule muffig und gar nicht mehr vielversprechend. Ein Ort für Kinder und Jugendliche war ihre schöne Hela nicht. Aber die Vision blieb, daß eine Schule so sein müsse, wie Enja, die inzwischen mit Nachnamen Riegel hieß, sie in Erinnerung hatte.

 

Als Schulleiterin ließ sie Wände einreißen. Auf jeden fünften Klassenraum wurde verzichtet, um dafür Schülertreffs zu schaffen. Diese Zwischenräume der Schule sind Programm. Dort arbeiten Schüler selbständig. Dort werden die Ergebnisse ihrer Projekte ausgestellt. Eltern werden eingeladen, sie zu betrachten. Einen Schülertreff gibt es jeweils für einen Jahrgang. Es entstanden Marktplätze der kleinen Schulen in der großen. Jeden Jahrgang unterrichtet ein Lehrerteam. Lehrerteams von sieben bis neun Lehrern führen einen Jahrgang von vier Parallelklassen von der fünften bis zur zehnten Klasse. Die Teams sind selbständig. Zugehörigkeit hatte Enja Riegel als den Grundstoff allen Lernens entdeckt. In anderen Schulen hatte sie beobachtet, was dabei rauskommt, wenn Lehrer beim Zensurengeben ihre Schüler auf Fotos sortieren, um sie nicht zu verwechseln. Lehrer im Jahrgangsteam der Helene-Lange-Schule müssen auch fachfremd unterrichten. Das stellte sich für die Schüler bald als Vorteil heraus, erfordert aber die Zusammenarbeit der Pädagogen.

 

Schritt für Schritt wurden in dieser Schule eigene Curricula erarbeitet. Ständig wird überprüft, ob man auch erreicht, was man sich vornimmt. Bald fand man es unmöglich, im Unterricht Selbstverantwortung zu predigen und mittags die zuweilen verwahrlosten Räume türkischen Putzfrauen zu überlassen. Also entschlossen sich zunächst die Lehrer eines Jahrgangsteams Staubsauger anzuschaffen, und hielten die Schüler an, selbst zu putzen. Bald hatte die ganze Schule den Übergang vom geputzten zum selbst putzenden System hinter sich. Das mußte gegen die Stadtverwaltung, gegen die ÖTV und gegen diverse Putzfirmen durchgekämpft werden. Inzwischen nimmt die Schule fürs Putzen 25 000 € im Jahr ein. Mit dem Geld wird ein professioneller Theaterregisseur engagiert. Der spielt mit Schülern wochenlang Theater, zum Schluß der Session fällt aller Unterricht dafür aus – gegen den Widerstand mancher Fachlehrer. Die Schulleiterin hat sich wieder mal durchgesetzt. Sie sagt: „Wer viel Theater spielt, wird gut in Mathematik.“ So lernt die Schule, über Bande zu spielen, und erfährt tagtäglich, daß Lernen ein indirekter Vorgang ist.

 

Eine Sache, einmal richtig und mutig angegangen, zieht anderes nach sich. Inzwischen finanzieren sich die Theateraufführungen über den Eintritt der Aufführungen. So wird das Lernen, ja, das Leben als folgenreiche Tätigkeit erlebt. Die eigene Wirksamkeit macht Freude, wenn sie zuweilen auch anstrengend ist. Aber jeder Schüler an der Hela weiß: Anstrengung macht viel mehr Spaß als Langeweile.

 

Durfte die Schule das denn alles? Wenn Eltern und Lehrer der Schulleiterin diese Frage stellten, bekamen sie immer zur Antwort: „Ja, selbstverständlich.“ Denn Lehrpläne seien richtungweisend, und nicht etwa als kleinliche Vorschriften zu verstehen. Die Schulleitung übernehme die Verantwortung, daß die Anforderungen alles in allem eingehalten werden. Das war nicht nur so ein Wort. Nachfrage nach den Ergebnissen eines Projektes mußten sich Lehrer von nun an gefallen lassen. Nach außen übernimmt die Schulleitung den Schutz, und nach innen repräsentiert sie selbst ein Außen – eine Instanz, die nachfragt und Rechenschaft verlangt. Die Schulbehörden sahen das zunächst anders. Ein Bespiel, wie tief das Mißtrauen steckt. Aber sie wurden Jahr für Jahr mehr von den Erfolgen dieser selbständigen Schule überzeugt, in der nicht, wie manch einer fürchtete, jeder macht, was er will, im Sinne von Laisser-faire, sondern in der immer mehr Schüler und Lehrer tatsächlich etwas wollen: so gut wie möglich sein, sich nicht beschummeln, um dann gemäß Frank Sinatra sagen zu können: I did it my way.

 

Die neuen Arbeitsweisen der Schule wurden den Behörden, den Eltern oder auch der Öffentlichkeit gegenüber nie verheimlicht. Allerdings, so ein inzwischen häufig zitiertes Bonmot von Enja Riegel: „Wir fragen Schulrat Moos bei vielen Dingen, die wir anders machen wollen. Aber es gibt Dinge, da schonen wir ihn, denn die müßte er verbieten. Dann tun wir es einfach.“ Das wurde von Enja Riegel im Fernsehen gesagt. Heimlichkeiten wären etwas anderes.

 

So eigensinnig und unverwechselbar diese Schule ist, so sehr drängt sich die Verwandtschaft mit der Bodensee-Schule und ähnlichen Schulen auf. Diese Schulen geben den Schülern und den Lehrern so viel Sicherheit, daß sie sich ruhig in Unsicherheiten begeben können. Das ist Führung, die nichts mit Führung als Herrschaft zu tun hat. Eher mit Macht, wie man sie auf englisch buchstabiert: Power. Macht kommt von Mögen, meinte Hannah Arendt, Macht entstünde, wenn sich Menschen zum Leben und zur Gestaltung ihrer Verhältnisse verabredeten. Genau das geschieht an der Helene-Lange-Schule. Die Schulleitung wurde gestärkt und zugleich wurde von oben nach unten Macht an Lehrerteams abgegeben. Machtvermehrung so betrieben ist kein Nullsummenspiel. Wenn man wieder das deutsche Wort „Macht“ durch das englische Wort „Power“ ersetzt, versteht man diese etwas andere Mathematik leichter. Die Zusammenarbeit der Lehrer in Teams verschafft ihnen die häufig völlig neue Erfahrung, wie beglückend Resonanz ist und wie sehr die Vereinzelung an den Kräften zehrt. Die Teams erwiesen sich als regelrechte Labore für das Experiment, die Macht für alle zu vermehren, statt um Macht und Einfluß wie um ein knappes Gut zu kämpfen.

 

Natürlich gab es auch an dieser Schule, vor allem bei Eltern den Zweifel, ob man so denn auch was fürs Leben lerne. Nach den ausgezeichneten PISA-Ergebnissen sind solche Zweifel verstummt. Die gute Ernte wurde nicht nur von PISA bestätigt. Zuvor schon, bei der internationalen Mathematik- und Naturwissenschaftsstudie TIMMS schnitt die Schule bestens ab. Eine Studie der Uni Erfurt bescheinigt ehemaligen Schülern Selbstständigkeit und Kooperation. Seit Jahren evaluiert die Schule selbst den Weg der Schüler nach der 10.Klasse. In der gymnasialen Oberstufe, auf die viele wechseln, stiegen die Leistungen der Schüler im Schnitt um 2,1 Punkte.

 

Enja Riegel ließ sich 2003 pensionieren, aber nun will sie es noch mal wissen. Auf dem Gelände der ehemaligen Gartenbauversuchsanstalt des Landes Hessen in Wiesbaden soll eine neue Schule entstehen. Sie soll so handlungsfähig sein, wie es die staatlichen Schulen noch nicht sind, aber vielleicht bald sein werden. Den Beweis soll die Schule „Campus Klarenthal“ als Unternehmen antreten. Nachdem Enja Riegel 2004 einen Trägerverein gegründet hat, gibt die Stadt Wiesbaden im Sommer 2005 eine Bürgschaft über 1,5 Millionen Euro für den Kauf dieses Grundstücks – übrigens mit den Stimmen von allen Fraktionen. Stiftungen interessieren sich für das Projekt. Die neue Schule soll vom Kindergarten bis zum Abitur gehen. Vielleicht wird eine Akademie dazugehören, in der Lehrer wieder zu Anfängern werden, natürlich auf allerhöchstem Niveau. Plato sagte ja: „Der Anfang ist auch ein Gott, wo er waltet, rettet er alles.“ Das hört sich vielleicht etwas vollmundig an, aber genau das brauchen wir – Schulen, die der Gesellschaft etwas wert sind. Schulen, in denen die besten Erwachsenen für die Kinder da sind. Irdische Tempel, die für jedermann die Idee gelungenen Lebens verkörpern.

 

 

Hannah Arendt, Die Krise der Erziehung in: Hannah Arendt, Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Serie Piper 1421, München 1994

Hannah Arendt, Vita activa oder vom tätigen Leben, Piper, München 1960 (spätere Ausgaben in der Serie Piper 217 )

Hannah Arendt, Rahel Varnhagen Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik. Serie Piper 230, München 1995

Hannah Arendt, Gedanken zu Lessing. In: Hannah Arendt, Menschen in finsteren Zeiten. Piper Verlag, München 1968

 

Die Bodensee-Schule und die Helene-Lange-Schule sind in Filmen von Reinhard Kahl dokumentiert, die als DVD oder VHS im Internet über www.archiv-der-zukunft.de und im Buchhandel über den Beltz Verlag zu beziehen sind: „Treibhäuser der Zukunft – Wie Schulen in Deutschland gelingen“ und „Eine Schule, die gelingt – Enja Riegel und die Helene- Lange-Schule Wiesbaden.“