arte magazin: Dein Freund der Fehler

 

 

Dein Freund, der Fehler

 

Jeder Mensch muss in die Schule und soll etwas lernen. Aber will er auch lernen?

Die Wissenschaft sagt ja. Nur eines müsse sich hierzulande dafür ändern: der Umgang mit Fehlern.

 

„Jeder bekommt jetzt ein DIN A4-Blatt.“ Der Ulmer Psychiater und Hirnforscher Manfred Spitzer spricht plötzlich wie ein Oberlehrer. Das macht sein Publikum in der Stadthalle von Schwäbisch Gmünd unruhig. Mehr als 1.000 Menschen sind gekommen. „Ich gebe Ihnen eine Viertelstunde und Sie schreiben auf, was Sie von der Mathematik der Oberstufe können.“ Spitzer ist ein Guru der neuen Lernforschung. Die Leute kommen in Scharen zu seinen Vorträgen. Aber in Mathe geprüft zu werden, damit hat niemand gerechnet. Nach kurzer Zeit beginnt der Professor zu grinsen. Der Saal antwortet mit einer Woge erleichterten Lachens. Wer braucht schon eine Viertelstunde, um zusammenzufegen, was von Vektor-rechnung und Stochastik übrig geblieben ist? Dafür ist gewöhnlich auch kein DIN A4-Blatt nötig. Ein Papierschnipsel würde reichen. Aber wenn ein Oberlehrer spricht, will das niemand zugeben.

Wie viele Menschen haben in der Schule gelernt, ihr Unwissen zu tarnen und dabei den Hunger auf Neues verloren? Ihre Lektion: lieber intelligent gucken als dumme Fragen stellen. Dabei ist Wissensmangel der Antrieb zum Lernen. Viele Schulen spielen noch das ermüdende Spiel der fertigen Welt, in der es auf alles eine Antwort gibt. Die Schüler gehen dorthin wie zum Zahnarzt. Nach Jahren des Unterrichts sind sie erleichtert, das alles hinter sich lassen zu dürfen, und haben das Lernen verlernt. Nicht ganz. „Unser Gehirn kann gar nicht anders als lernen“, sagt Manfred Spitzer und fügt hinzu: „Jedes Gehirn ist ein Protokoll seiner Benutzung.“

Wie also lernt man, sein Gehirn zu benutzen? Die Erfahrungen in der Schulzeit entscheiden darüber, ob man widerwillig oder mit Freude lernt. Auf die Atmosphäre kommt es an. Die Hirnforschung zeigt, dass es sich mit Freude besser lernt. Hier unterscheidet die Lernforschung zwischen „trägem“ und „intelligentem“ Wissen. Träges Wissen bleibt ein Fremdkörper und wird zumeist wieder abgestoßen. Es erinnert an die Krankheit Bulimie: fressen und kotzen. Intelligentes Wissen hingegen macht Appetit auf mehr. Bei der Vermittlung trägen Wissens bleiben die Schüler passive Objekte der Belehrung. Der Aufbau intelligenten Wissens aber setzt voraus, dass die Schüler Subjekte sind und zusammen mit ihren Lehrern „Ko-Konstrukteure“ eines Wissens werden, das bei jedem etwas anders modelliert ist. Lernen wird so gewissermaßen zur Vorfreude eines jeden Menschen auf seine künftige Persönlichkeit. War es in der alten Schule eher ein Nachteil, verschieden zu sein, und wollten Lehrer alle Schüler möglichst auf den gleichen Stand bringen, so entdeckt das neue Lernen das Potenzial der Differenz. Unterschiede vergrößern den Pool möglicher Fragen und Antworten. Das gilt im Klassenraum genauso wie für die Gesellschaft.

Die klassische Industriegesellschaft, in der die Belehrung Trumpf war, wandelt sich zu einer Ideen- und Wissensgesellschaft. Um Probleme zu lösen und Neues zu erfinden, kommt es auf Selbstständigkeit und Kooperation gleichermaßen an. Das Thema Lernen rückt dabei an die Spitze der Tagesordnung. Immer weniger geht es in der Arbeitswelt darum, routinierte Arbeiten auszuführen, das übernehmen Maschinen. Im Zeitalter der Globalisierung setzen Unternehmen stattdessen darauf, „lernende Organisationen“ zu werden. Wissen ist dafür das wichtigste Kapital und Lernen wird zur entscheidenden Produktivkraft. 

Ein Land wie Finnland, das im Bildungsranking der Pisa-Studie ganz oben steht, hat den Sprung von einer bindungsstarken Agrargesellschaft zu einer erfindungsreichen Wissensgesellschaft, die auf dem traditionellen Sozialkapital aufbaut, geschafft. Das Ziel der „Kommunikationsgesellschaft“ wurde sogar per Verfassung festgelegt. Ein Richtwert dafür definiert, dass 70 Prozent eines Jahrgangs aller Jugendlichen studieren. Inzwischen beginnen 72 Prozent ein Studium. Das Geheimnis der Finnen heißt: Man darf kein Kind beschämen. Niemand wird ausgeschlossen. Selbstbewusstsein und Zugehörigkeit erweisen sich als die Seele des Lernens und zugleich als ein Erfolgsfaktor für die moderne Gesellschaft. Kein Wunder, dass derzeit in Finnland 500 Schulleiter aus China erkunden, was gute Schule ausmacht.

Auch in der Bildung hat das Zeitalter der Globalisierung begonnen. Kulturen lernen voneinander. Euro-päer, die Schulen in Vietnam oder Japan besuchen, sind beeindruckt von der enormen Hochachtung gegenüber dem Lernen. In Vietnam räumt die Familie den einzigen Tisch, damit das Kind seine Schulaufgaben machen kann. Die Vorstellung von mangelnder Begabung und  davon, dass es einige Schüler nie schaffen werden, ist in Ostasien unbekannt. Japan versucht, die rigiden Traditionen seiner Schulen hinter sich zu lassen, und spricht von Kreativität als dem „Salz des Lernens“. Dazu gehört auch die japanische Tradition, dass man beim Lernen Fehler machen darf, ja Fehler machen soll.  

In der Tat ist der Umgang mit Fehlern aufschlussreich. Gelten Fehler als Sünden, die in der Schule von einer pädagogischen Inquisition verfolgt werden, oder nennt man den Fehler, wie in kanadischen Schulen, einen Freund? Schulen können übrigens von manchen Unternehmen lernen, in denen sich das Management mittags fragt: „Hast du heute schon einen Fehler gemacht?“ Der Fehler gilt nicht mehr als Abweichung, die geahndet wird, sondern als Eintragung im Pass für Grenzgänger. Wer sich ins Unbekannte gewagt hat, macht Fehler. Umgekehrt gilt: Wer keinen Fehler gemacht hat, hat noch nichts gewagt. Natürlich geht es darum, nicht immer wieder die gleichen Fehler zu machen, sondern neue, intelligente Fehler zu wagen. „Ich ernähre mich von meinen Fehlern“, sagte der Künstler Joseph Beuys, „wovon sonst?“

 

ARTE-Gastautor Reinhard Kahl widmet sich als Autor und Regisseur dem Thema Lernen und Erwachsenwerden